Anna Schlutter - Wagnis (aus dem 3. Vechtaer Jugendliteraturpreis - Ich in meiner Welt von morgen)
Anna Schlutter (Vlotho, 19 J.)
Wagnis
Sapere aude.
Ich mag diesen Satz.
Ich habe ihn in einem alten Buch von meinem Großvater entdeckt. Jeder weiß, was ein Buch ist, natürlich. Es gibt nichts, das wir nicht wissen. Unser Gehirn ist schließlich an einen millimeterkleinen Chip gekoppelt, der es dauerhaft mit dem Internet verbindet und jede Information dieser Welt abrufen kann. Jeder weiß also, dass ein Buch eine gebundene Sammlung von beschriebenem Papier ist, und jeder weiß auch, wie ein Buch aussieht.
Aber fast niemand hat jemals ein Buch in den Händen gehalten, zumindest niemand in meinem Alter.
Ich bin siebzehn Jahre alt.
Meine Mutter ist vierundsechzig Jahre alt.
Mein Großvater ist sechsundneunzig Jahre alt.
Er hat mir mal erzählt, dass Frauen früher nur bis zu einem bestimmten Alter Kinder kriegen konnten und dafür einen Mann brauchten.
Das kann ich mir heute gar nicht mehr vorstellen.
Jedenfalls besitzt mein Opa eine Sammlung von Büchern. Er lagert sie auf dem Dachboden, denn Bücher sind nicht so gern gesehen. Eigentlich sind sie sogar verboten, zumindest das Drucken von neuen Büchern. Dafür braucht man nämlich Papier, und das wird aus Holz gemacht. Und Holz ist ein Rohstoff, von dem wir auf der Welt viel zu wenig haben, auch wenn es angeblich Wissenschaftlern in China gelungen ist, Holz in einem Reagenzglas herzustellen.
Außerdem werden Bücher heute einfach nicht mehr benötigt, weil man ja das gesamte Weltwissen abrufbar im Gehirn hat.
Es werden auch keine Schulen mehr benötigt. Opa hat gesagt, dass Kinder früher jeden Tag zur Schule gehen muss-ten und dass er oft keine Lust dazu hatte. Unvorstellbar! Etwas tun zu müssen, auf das man keine Lust hat, meine ich.
Früher mussten die Menschen arbeiten. Sie haben dabei all die Tätigkeiten gemacht, die heute Roboter ausführen. Sie haben Maschinen bedient, Menschen operiert, Lebensmittel produziert. Und das fast den ganzen Tag, da blieb kaum Zeit, Spaß zu haben. Sie mussten aber arbeiten, denn sie mussten Geld verdienen. Das gibt es heute auch nicht mehr. Geld. Komisches Wort. Roboter arbeiten nicht gegen Geld. Roboter arbeiten umsonst.
Deshalb hat man heute immer Zeit, Spaß zu haben. Und das soll man auch. Man erhält dafür Credits. Ich denke, dass un-ser Credit-System vielleicht vergleichbar ist mit der Politik, die Menschen früher hatten, aber sicher bin ich mir nicht. Heute gibt es nämlich keine Politiker mehr, zumindest kennt man sie nicht. Hin und wieder werden Nachrichten auf die Chips in den Gehirnen geschaltet, die von ganz oben kommen, aber niemand weiß, wer da ganz oben ist.
Müssen wir ja auch nicht. Über so etwas nachzugrübeln, macht den meisten Menschen keinen Spaß, deshalb sollen sie es auch nicht tun. Es ist fast ein bisschen verboten. Das Blöde ist nur: Ich habe schon Spaß an sowas und gebe mich gern Gedankengängen hin. Dafür kriege ich aber keine Credits. Credits kriegt man zum Beispiel fürs Essen. Essen ist eine lustige, aber eigentlich völlig überflüssige Tätigkeit. Über unsere Chips im Körper können wir uns jederzeit alle wichtigen Nährstoffe zuführen lassen. Man kriegt auch Cre-dits für zwischenmenschliche Aktivitäten. Ich glaube, weil die da oben Angst haben, dass wir sowas sonst verlernen. Die meisten Menschen kommunizieren nämlich nur noch über ihre Chips. Es gibt auch Credits für das Teilnehmen an einer der vielen Vergnügungsaktivitäten, davon gibt es Tausende, zu viele, um sie hier aufzuführen. Kurz gesagt: Es gibt für alles Credits, was Spaß macht, nicht aber fürs Denken. Und das macht mir Spaß, vor allem, seit ich die Bücher auf Opas Dachboden entdeckt habe.
Sapere aude.
Das ist Lateinisch und bedeutet: Wage es, deinen Verstand zu benutzen.
Zuerst habe ich den Spruch gar nicht verstanden.
Ich benutze doch jeden Tag meinen Verstand.
Er ist mir doch ins Gehirn gepflanzt in Form eines kleinen Stücks Plastik.
Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto klarer wurde mir, dass der Autor dieses Satzes etwas anderes ge-meint haben muss. Er ist nämlich schon eine Ewigkeit tot, zu seiner Zeit gab es so etwas wie unsere Chips noch gar nicht.
Also habe ich den Schluss gezogen, dass der Mensch von Natur aus so etwas wie einen Verstand besitzt. Und viel-leicht braucht er den ja auch. Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher wofür. Darüber denke ich schon seit Tagen nach.
Mama hat mich aber heute ermahnt, dass ich zu lange nicht an Vergnügungsaktivitäten teilgenommen habe, deshalb bin ich jetzt auf dem Weg zur Festival Simulation. Opa sagt, früher hat man die Dinge wirklich gemacht, aber heute wird alles nur noch simuliert. Das verbraucht nämlich weniger Energie und produziert weniger CO2.
Beim Autofahren kann man sich immer gut entspannen und träumen, schließlich macht das Auto alles von allein. Seit man nicht mehr selbst fahren muss, gibt es keine Unfälle mehr.
Menschen machen Fehler, Computer nicht.
Eigentlich. Denn gerade steuert mein Auto nicht auf das Simulationszentrum, sondern auf einen Wald zu.
„Hey!“ Selbst als ich auf anhalten tippe, fährt es einfach weiter. „Hast du ‘nen Systemfehler?“
Irgendwann kommt mein Auto doch zum Stehen, mitten im Wald.
Jemand öffnet von außen die Tür.
Ich finde mich in einem dunklen Raum wieder, in dem nur schwaches Licht brennt.
Mir gegenüber sitzen drei Menschen.
„Keine Angst, wir wollen dir nur ein paar Fragen stellen“, sagt eine junge Frau freundlich.
„Ich möchte Ihnen auch eine Frage stellen“, erwidere ich forsch, was vielleicht daran liegt, dass niemand mir je beige-bracht hat, Angst zu haben. In unserer Welt gibt es nichts, wovor man Angst haben müsste. Durch eine konstante Überwachung ist Kriminalität unmöglich. „Haben Sie mein Auto gesteuert?“
„Ja.“ Die Frau zwinkert mir zu. „Aber nicht wir im engeren Sinn. Das war die Zentrale für Verkehrsüberwachung. Sie sorgt dafür, dass im Straßenverkehr alles glattläuft und kann eure selbst fahrenden Autos nach Belieben steuern. Wir haben sie damit beauftragt, dich hierher zu bringen, weil der Zentrale für Creditüberwachung aufgefallen ist, dass du lange nicht an Vergnügungsaktivitäten teilgenom-men hast. Die Zentrale für Gehirnüberwachung wurde daraufhin eingeschaltet und hat festgestellt, dass du in letzter Zeit sehr viel mit Denken beschäftigt warst. Wir möchten dich dringend bitten, dieses Verhalten zu unterbinden, an-sonsten scheint bei dir eine Fehlschaltung vorzuliegen und wir müssen deinen Chip neu programmieren. Okay?“
Ich erschaudere. Eine Chip-Neuprogrammierung ist so ziemlich das Einzige, was man in unserer Welt fürchten muss. Niemand weiß, was dabei genau passiert. Aber alle wissen, dass man es nicht so weit kommen lassen darf.
Ich nicke eingeschüchtert, beantworte noch ein paar Fragen so systemgetreu wie möglich und werde dann hinausge-führt. Obwohl ich mit allen Mitteln versuche, es zu unterdrücken, kann ich mir einen Gedanken trotzdem nicht ver-kneifen. Wenn in unserer Welt alles so richtig ist, warum fühlt sich das hier so falsch an? Wie kann ich zwischen richtig und falsch unterscheiden? Ist es das, wofür der Mensch seinen Ver-stand benötigt?
Bevor ich das seltsame dunkle Gebäude verlasse, fällt mir ein Schild auf, das über der Tür hängt.
Wage es nicht, deinen Verstand zu benutzen.