Astrid van Nahl mit Rezension zu Artur Nickels 'Perspektiven-Band'
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Ins Auge sticht zunächst das Bild auf dem Cover, das einmalig gut den Titel einfängt. Ich betrachte es
lange und oft, denn das Buch hat viele Tage an meinem Bett gelegen, und obwohl es ein Buch ist, das
durch „Leere“ besticht, habe ich selten mehr als zwei drei Gedichte an einem Abend geschafft. Das waren
meist nur wenige Sätze insgesamt. Aber je mehr ich darin gelesen habe, desto öfter habe ich das Cover-
bild betrachtet – es gibt eine Reihe weiterer ähnlicher Bilder im Inneren des Buches – und die Perspek-
tiven wechseln sehen. Was stellt es dar? Ich sehe ein Fenster und durch das Glas hinaus ins Grün. Oder
ist es ein Bilderahmen, eigentlich zwei, als Bild darin die Natur, Gras, eine Blume? Ich sehe eine Spitze,
die eine nach oben, die andere nach unten zeigend, und glaube zu erkennen, dass das kleine Bild das
große spiegelt. Und das Spitze, ist es ein geschliffener Edelstein? Eine Kirchturmspitze?
Es spielt keine Rolle, was es ist, Farben und Formen bestechen mit ausgearbeiteter Einfachheit und
führen den Leser dahin, wo der Autor ihn haben will: zum Wechsel der Perspektive. Das Ungewohnte
springt einen auch optisch an, wenn man das Buch öffnet. Weiß, überall weiß, unbedrucktes Papier.
Es ist nicht nur ein Spiel mit der Form, sondern auch mit den Flächen. Manche linke Seite bleibt ganz
leer. Andere Seiten bestehen nur aus wenigen Zeilen, breit und unregelmäßig verteilt, manchmal ist
etwas wie Strophen erkennbar. Aber die Formen sind aufgebrochen. Wie die Perspektiven.
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Astrid van Nahl ⋅ Dezember 21 ⋅ 2 | Seite
Etwa 110 Seiten sind es, die die Gedichte präsentieren – ja, nicht einfach abdrucken. Man kann sie
nicht so mühelos lesen wie in einem traditionellen Lyrikband. Die Form ihrer optischen Präsentation
ist ein fester Teil von ihnen, genau so wichtig wie die Worte selbst, und die Wörter wiederum meinen
nicht immer (nur) das, was man mit ihnen verbindet, geben eine weitere Bedeutung frei, wechseln die
Perspektive.
tREIBsand . stEINSCHLAG . verschWAND . mein HALTe griff am kOFFer.
Es ist kein einfaches Buch mit seinen Gedichten – sind es Gedichte? – und man muss sich als Leser
von der Idee befreien, jeden Satz – sind es Sätze? – und seinen Inhalt rational verstehen zu wollen.
Wenn man das schafft, dann kann man sich erfassen lassen von den Bildern, die hinter den Gedan-
kensplittern, hinter Text und Form stehen. Es scheinen mir sehr persönliche Gedankenbilder zu sein,
die sich hier widerspiegeln, experimentell und anspruchsvoll. Und ich möchte mich selbst zitieren aus
einer meiner früheren Rezensionen:
Sie machen es einem nicht leicht, die Gedichte von Artur Nickel, vieles ist unergründlich, undurchsichtig,
nur schwer durchschaubar, gerade so, als spiegelten sie allein durch ihre Sprache und Form die Welt, in der
sich der Mensch orientieren, in der er seinen Weg finden muss. Diese Welt scheint mir begrenzt, begrenzt
in dem Sinne, als es sehr persönliche Situationsbilder sind, die individuelle Emotionen, Stimmungen, Ge-
danken, Erinnerung zum Ausdruck bringen [...] Zwischen den Wörtern scheinen Situationen durch, über
die man nachzudenken beginnt, weil sie sich nicht wirklich fassen lassen, nur einen Gedanken aufblitzen
lassen, der nie zu Ende geführt wird, der den Leser herausfordert. Je öfter man das Buch zur Hand nimmt
und sich festliest, desto vielfältiger werden diese Gedanken, desto reicher wird ihr Zusammenspiel, bis es
sich letztlich zu einem Bild formt, das sich dann wieder nicht fassen lässt.
Neun Gruppen sind es, in die sich der Band gliedert, jede zwischen 10 und 12 Seiten lang; wovon sie
wirklich handeln, muss man weitgehend selbst für sich entdecken und dabei ganz sicher auch Irrwege
gehen. Und das ist egal, Hauptsache man liest und lässt sich herausfordern, grübeln, verzweifeln, in-
spirieren.
In einem Nachwort zum Buch kommen Artur Nickel und Miriam Bornewasser selbst zu Wort und
schreiben über ihren eigenen Zugang zu Texten und Bildern. (Dieses Nachwort ist auf der ▶Webseite
des Verlags offen zugänglich.) Und bei beiden fallen auffallend oft die Schlüsselwörter, mit denen sich
Artur Nickels Lyrik erschließen lässt. Da ist die Rede von „in Bewegung setzen“ und von Anfang an
„ein Überschreiten von Grenzen“, letztendlich Themen in all seinen Büchern, und sie sind es auch, die
ihn bewegten in seiner literarischen Arbeit mit Jugendlichen, oft Einwanderern, um sie zu motivieren
zu Begegnungen, um ihr eigenes Leben zu finden und zu leben.
Und ich möchte mich noch einmal zitieren.
Wort und Bild gehen eine großartige Einheit ein, die zu erfassen man sich als Leser Zeit lassen muss. Es
sind vor allem die Farben der seitengroßen Bilder, die viel Raum lassen für Interpretation. So ergibt sich ein
schönes Zusammenspiel im Ausdruck persönlicher Gedanken, Eindrücke, Träume und Visionen von Autor
und Illustratorin, wort- und farbstark angelegt, dessen atmosphärische Dichte dem Leser einen ganz beson-
deren Genuss beschert.
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen