Dieter Krenz: Das Kind, Bruno und die Geschichte von der Angst

Als das Kind Bruno besuchte, war der Himmel grau, und ein ganz feiner Sprühregen legte sich auf das Land. Bruno lag auf der Couch im Wohnzimmer und hatte sich in seine blaue Kuscheldecke eingewickelt. Er freute sich sehr über den Besuch des Kindes.
Das fragte ihn aber nicht nach seinem größten Wunsch, sondern nach der größten Angst, die er jemals gehabt hatte.
Schade, meinte Bruno. Ich hätte Dir auch meinen größten Wunsch erzählen können. Aber die Geschichte, in der ich wirklich große Angst hatte, ist natürlich spannender. Am Ende unserer Straße steht eine alte Fabrik, die nach und nach abgerissen wird. Kinder dürfen da nicht spielen. Aber mein Freund und ich sind öfter hineingegangen, weil da noch verrostete Maschinen herumstanden und wir viel entdecken konnten. An einem Sonntag Nachmittag bin ich allein in die Fabrik. Mein Freund konnte nicht mit, weil er mit seinen Eltern die Großeltern besuchte.
Wir waren immer nur in der großen Halle gewesen. Die kannte ich schon ganz genau. Natürlich hatte ich meine Taschenlampe dabei. Über eine breite Betontreppe erreichte ich einen großen Raum, in dem viele Rohre und Bretter herum lagen. Vorsichtig ging ich über die Bretter. Plötzlich gab eines nach, und zusammen mit dem Brett fiel ich - und landete auf etwas Weichem.  Die Taschenlampe lag auf dem Boden und leuchtete auf eine Wand. Ich nahm sie und sah mich um. Ich war auf einem Stapel von dreckigen Matratzen gelandet. Mein Glück. Ich hätte mir alle Knochen brechen können. Aber die Wände dieses Loches waren sehr hoch. Hochklettern konnte ich da nicht, und eine Treppe oder Leiter waren auch nicht da.
Was sollte ich tun?  Ich begann um Hilfe zu schreien. Wie oft, weiß ich nicht mehr. Doch mein Hals tat mir weh und ich fror. Und meine Taschenlampe machte ich immer nur kurz an. Wegen der Batterien.
Irgendwann - nach einer Ewigkeit - hörte ich Geräusche - Schritte. Und - meinen Namen. Ich knipste die Taschenlampe an, mehrmals und rief so laut ich konnte. Aber eigentlich krächzte ich nur. Dann blendeten mich gleich mehrere Taschenlampen. Und mein Vater landete neben mir. Eine Leiter wurde gebracht; ich war gerettet.

Als meine Eltern, die zwei Polizisten und ich bei unserem Haus ankamen, stand dort mein Freund mit seiner  Familie. Er hatte den Tipp mit der Fabrik gegeben. Er war mein Held.
Das Kind bedankte sich bei Bruno für die Geschichte und meinte nur noch: Du hast von deiner größten Angst erzählt, aber eigentlich auch von deinem größten Wunsch.