Dieter Krenz - Erzählungen in der Isolation - der neunte Tag (Literatur in schwierigen Zeiten)

Am neunten Nachmittag kam Jon zu unserem kranken Kind. Er wohnte in der Nachbarstraße und fiel auf, weil er rote Haare und viele Sommersprossen hatte. Alle kannten ihn, weil er perfekt laut pfeifen konnte.

Ich erzähle Dir vom Boot, fing John seine Geschichte an. Du kennst doch den Stausee, auf dem wir im letzten Sommer mit dem Tretboot gefahren sind. (Das kranke Kind nickte.) Im November war ich mit meiner Omi dort spazieren. Über dem See lag dichter Nebel. So konnten wir nicht bis zum gegenüberliegenden Ufer sehen. Trotzdem war es schön am Wasserrand entlang zu gehen.

Als wir einmal auf den See hinaus sahen, lichtete sich gerade der Nebel an einer Stelle des Sees. Genau dort lag ein dunkles Boot. Auf dem hinteren Ende war so etwas wie ein Stuhl, auf dem ein Mensch saß. Die Wasserfläche war glatt. Das Boot lag ganz ruhig, und der Mensch bewegte sich kein bisschen. Obwohl wir einige Zeit hinschauten, tat sich nichts. Meine Omi meinte: Das sieht wie eingefroren aus.

Kaum hatte sie das gesagt, verdeckte der Nebel den See wieder ganz. Wir gingen weiter, hatten aber noch immer dieses Bild im Kopf. Wer war das? Was war das für ein Boot? Wir rätselten und erfanden die tollsten Geschichten dazu.

Wir erreichten eine Stelle, von der man den ganzen See überblicken konnte. Da riss die Nebeldecke auf, und der See lag im hellsten Licht vor uns. Wir schauten sofort zu der Stelle, wo das Boot gelegen war. Doch da war nichts. Und auch auf dem ganzen See nicht. Nirgends lag so ein Boot am Ufer. Hatten wir uns getäuscht? Wir würden es nie erfahren.

Wie könnte dieses Boot heißen?