Dieter Krenz - Erzählungen in der Isolation - der siebzehnte Tag (Literatur in schwierigen Zeiten)

Der Nachmittag des siebzehnten Tages, an dem das Kind daheim bleiben musste. Zum Glück kam pünktlich um drei Uhr Flo, der eigentlich Florian hieß.

 

Ich will Dir die Geschichte vom Taschenmesser erzählen, begann er. Das Taschenmesser gehörte meinem Opa. Es war nicht sehr groß, aber mit Holzgriff. Mit dem Messer schälte sich mein Opa jeden Tag seinen Apfel. Er liebte Äpfel und meinte, dass sie sehr gesund seien - aber nur die sauren. Das Taschenmesser hatte er immer dabei.

Einmal ging er mit mir in den Wald. Da standen viele große Bäume. Mein Opa erklärte mir, dass Buchen im Vergleich zu Eichen eine glatte Rinde haben. Und dann nahm er sein Taschenmesser und begann in die Buchenrinde zu schnitzen. "Das ergibt meine Anfangsbuchstaben O und K. Und außerdem die Jahreszahl. Weil der Baum wächst, wachsen auch die Buchstaben mit", erklärte er. "In ein paar Jahren - wenn ich nicht mehr lebe - kannst Du die Buchstaben noch sehen und erinnerst Dich an heute". 

Ich staunte und nahm mir vor später einmal zum Baum meines Opas zu gehen.

In diesem Sommer machten meine Eltern mit mir einen Spaziergang durch diesen Wald. Da fiel mir ein, dass mein Opa in einen der Bäume O und K geschnitzt hatte. Das erzählte ich meinen Eltern; sie halfen mir den Baum zu suchen, aber ohne Erfolg. Wahrscheinlich hatte man den Baum gefällt, denn einige Baumstümpfe sahen noch recht frisch aus. Traurig ging ich zu einem Stumpf, setzte mich darauf und bewegte meine Füße im Laub hin und her. Mein rechter Schuh traf auf einen Gegenstand. Ich hob ihn auf, wischte den Dreck weg und staunte nicht schlecht.

Es war ein Taschenmesser - das Taschenmesser meines Opas. Denn O und K waren auf dem Griff zu lesen. Er hatte es nach unserem Spaziergang vermisst.

 

Findest Du einem Namen für das Taschenmesser?