Dieter Krenz - Erzählungen in der Isolation - der vierundzwanzigste Tag (Literatur in schwierigen Zeiten)
Vierundzwanzigster Tag. Und die Stunden bis zum Nachmittag zogen sich für das Kind. Dann war es endlich drei Uhr. Pünktlich erschien Rosa von gegenüber. Rosa hatte rabenschwarze Haare, die sie zu einem langen Zopf gebunden hatte. Schwarz waren auch ihre Augen. Und die konnten ganz schön blitzen.
"Meine Geschichte handelt von der lebenden Statue", begann sie. (Das Kind musste kurz nachdenken. Dann erinnerte es sich, dass es in der Fußgängerzone schon einmal einen Mann gesehen hatte, der einen römischen Kaiser darstellte. Dabei hatte er sich wie eine Statue nicht bewegt.)
"Letzte Woche war ich mit meiner Mama einkaufen. Auf dem Marktplatz war ein Mann, dessen Haut von Kopf bis Fuß mit einer hellbraunen Farbe eingerieben war. Auch die Haare hatten diese Farbe. Er war nur bekleidet mit einer Art Badehose. Er sah sehr sportlich aus. Wir konnten gerade noch beobachten, wie er die letzten Reste Farbe auf seine Haut auftrug. Dann stieg er auf eine Art Podest, nahm eine leicht nach vorne gebeugte Haltung ein und bewegte sich kein bisschen mehr.
Nach ein paar Minuten warf jemand ein Geldstück in den Hut, den der Mann aufgestellt hatte. Jetzt begann er sich zu bewegen, aber ganz langsam, noch langsamer als in Zeitlupe. Er drehte sich zur Seite und nahm - immer ganz langsam - von einem Tischchen ein getrocknete Rose, drehte sich wieder nach links, beugte sich nach vorne und überreichte die Rose der Dame, die das Geld eingeworfen hatte. Erst jetzt veränderte sich sein Gesicht. Es zeigte ein leises Lächeln. Die Dame nahm die Rose mit einer kleinen Verbeugung, und der Mann bewegte sich zurück in seine Ausgangsstellung. Dann stand er wieder still. Aber nur für ein paar Minuten. Ein Kind legte Geld in den Hut. Wer jetzt gedacht hätte, er würde wieder eine Rose holen um sie dem Kind zu überreichen, der irrte. Zunächst einmal stand er still. Dann begann er seinen rechten Fuß nach vorne zu setzen. Ganz langsam. Die Fußspitze erreichte einen Knopf auf dem Podest. Der Fuß wurde angehoben und langsam auf den Knopf gesenkt. Plötzlich öffnete sich vorne am Podest ein Loch und ein Bällchen sprang heraus, direkt vor die Füße des Kindes. Dabei begann der Mann wieder zu lächeln. Das Kind freute sich riesig. Wir hätten noch stundenlang zuschauen können, aber dann hätten wir nicht mehr einkaufen können.
Findest Du einen Namen für diese lebende Statue?