Dieter Krenz - Erzählungen in der Isolation - der zehnte Tag (Literatur in schwierigen Zeiten)

Es war bereits der Nachmittag des zehnten Tages, an dem das Kind das Haus nicht verlassen durfte. Zum Glück musste es aber nicht mehr im Bett liegen. Es erschien die Babsi, die zwei Häuser weiter wohnte. Babsi war ein wenig pummelig, aber immer gut gelaunt. Außerdem konnte sie wunderbar singen.

Ich erzähle Dir vom Abendstern, sprach sie. Du erinnerst Dich, dass mich mein Opa öfter durch sein Fernrohr schauen lässt. Er hat mir schon viele Sterne am Himmel gezeigt.

Einmal stand der Abendstern unter der Mondsichel. Und der Abendhimmel war wunderschön blau. Mein Opa sagte, dass er eine Überraschung für mich hätte. Ich sollte einfach durch das Teleskop schauen. Ich war schon sehr gespannt. Als ich durch das Fernrohr schaute, war eine hell erleuchtete Sichel zu sehen. Ich sehe aber nur den Mond, sagte ich zu meinem Opa. Der erklärte mir, dass auch der Abendstern öfter als Sichel zu sehen ist. Und die sah richtig schön aus. Das ist aber nur der erste Teil der Überraschung, sprach mein Opa. Ich war baff. Und jetzt sollte ich mir die Augen zuhalten. Als ich sie wieder öffnen durfte, blickte ich auf ein Bild, das mein Opa für mich gemalt hatte. Es zeigte ein Kind mit einer goldenen Schnur, die bis zur Sichel des Abendsterns reichte.

Weißt Du, wie man den Abendstern noch nennen könnte?