Dieter Krenz - Erzählungen in der Isolation (Literatur in schwierigen Zeiten)

Nummer 1:

Das Kind war krank und musste für Wochen zu Hause bleiben. Zum Glück durfte es aber besucht werden.
So kam es, dass jeden Nachmittag ein anderer Freund oder eine andere Freundin vor dem Krankenbett saß.
Der Erste in dieser Reihe war der kleine Rabindranath, den alle aber nur kurz Rabi nannten.
Das Kind freute sich sehr über den Freund und bat ihn nach der Begrüßung eine kleine Geschichte zu erzählen.
Rabi war zwar nicht auf den Mund gefallen, aber eine Geschichte aus dem Stand zu erfinden, das fiel auch ihm nicht leicht.
Nach einigen Minuten hatte er eine Idee und begann:

Ich erzähle Dir die Geschichte vom Weg. (Das Kind stutzte, fragte jedoch nicht nach.) Auf dem Weg zu dir hörte ich eine Stimme, leise, nur unterbrochen von den Geräuschen meiner Schuhe. So blieb ich also stehen, und der Weg sprach mit mir.
Ich dachte, ich spinne, aber er beruhigte mich und meinte: „Wenn ein Freund krank ist, darf auch ein Weg sprechen.“ Da konnte ich nur zustimmen. Und so erzählte er, wer alles schon auf ihm herumspaziert war und - wie wir beide vor einiger Zeit so komisch gingen – mit einem Bein auf dem Weg und mit dem anderen im Rinnstein. Da musste ich natürlich lachen, weil das damals wirklich ulkig ausgesehen hat. (Das kranke Kind schmunzelte.)
Dann aber erzählte er mir – vertraulich natürlich - von den beiden alten Damen, von denen es immer heißt, sie könnten sich überhaupt nicht leiden. Und was taten sie? - Sie verabredeten sich auf ein Rockkonzert zu gehen. Als jedoch eine Nachbarin aus ihrem Haus kam, taten sie so , als wären sie sich spinnefeind.
Das Tollste aber, was der Weg mir erzählte, war ein Erlebnis, das ihm wiederum der Wind gepfiffen hatte: In der übernächsten Straße hatte ein Obdachloser einen Geldbeutel gefunden, der einem Anwohner gehörte. Da der Ausweis darin war, warf der Obdachlose den Geldbeutel – so wie er war – in den Briefkasten des Anwohners – und ging seiner Wege.
Der Weg hätte noch viel mehr zu erzählen gehabt. - Du weißt wie der Name des Weges ist?