Dirk Röse - Corona-Rätsel (Literatur in schwierigen Zeiten)
CORONA-RÄTSEL
Das Coronavirus ist mir ein Rätsel. Die mit ihm verbundene Krise ist mir ein Rätsel. Was in aller Welt ist diesmal anders?
Seit mehr als drei Wochen koordiniere ich einen Krisenstab, der nur einem Ziel folgt: Haltet das Virus von dem Unternehmen fern, in dem mehr als eintausend Menschen arbeiten. Minimiert das Risiko, dass Kolleginnen und Kollegen, dass Kunden und Geschäftspartner an COVID-19 erkranken. Sorgt dafür, dass dieser komplexe Organismus aus Rohstoffgewinnung, Produktion, Logistik, Vertrieb und Kundenbetreuung weiter pulsiert.
Zuerst kommen die gängigen Maßnahmen: Sensibilisierung der Belegschaft. Mehr Hygiene. Keine grenzübergreifenden Dienstreisen. Veranstaltungen absagen. Weniger Meetings. Nur noch die notwendigsten Besuche. Lesen, lernen, umsetzen. Ganz viele E-Mails an alle, Aushänge, Merkblätter. Dann die ersten Eskalationsstufen. Die Kollegen im Schichtbetrieb werden physisch strikt voneinander getrennt. Sollte eine der Schichten betroffen sein und in Quarantäne geschickt werden, können zumindest die anderen Schichten weiterarbeiten. Vorbereitungen auf das Home-Office. Zusätzliche Notebooks und Bildschirme werden gekauft und eingerichtet. Testläufe. Funktioniert alles? Die IT-Abteilung unter Starkstrom. Ja, alles funktioniert. In der Kantine wird die Anzahl der Sitzplätze halbiert und in festgelegten Zeitfenstern gegessen. Und schließlich: Aufteilung aller Teams in Hälften. Im Wechsel geht die eine Hälfte ins Home-Office, während die andere im Büro arbeitet. Die Flure verwaisen. Wenn man jemandem begegnet: Distanz halten. Die Kantine schließt ganz. Keine Kundenbesuche mehr. Und immer wieder die Frage: Ist das angemessen, was wir tun? Veranlassen wir zu viel oder zu wenig? Sind wir zu früh oder zu spät?
Seit einer Woche: Jeden Morgen als erstes die Anrufe von Kollegen, die krank geworden sind. Grippaler Infekt oder Corona? Zuhause bleiben oder zur Arbeit? Die Anrufe von Kollegen, in deren Umfeld es einen Verdachtsfall gibt. Ich gehe mit ihnen die Kontaktketten durch. Besteht ein Risiko oder gibt es kein Risiko? Es gilt, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen für die Gesundheit von Kolleginnen und Kollegen, den Blick auf die wirtschaftlichen Konsequenzen nicht aus dem Auge zu verlieren. Heikel vor allem in der Produktion. Es ist Hochsaison, jeder wird gebraucht. Lassen wir jemanden in die Fabrik, der infiziert ist, geht die ganze Schicht in Quarantäne. Klar ist: Die Gesundheit geht vor. Und bislang ist alles gut gegangen. Soweit wir wissen, ist weltweit keine Kollegin, kein Kollege, kein Kunde, kein Geschäftspartner betroffen.
Es irritiert mich, welche Dynamik eine Krise schafft, die noch gar nicht angekommen ist und bei der zunächst auch nicht absehbar ist, ob sie jemals kommen wird. Doch im Grunde ist dies der Idealfall einer Krise, wenn man noch viele Möglichkeiten nutzen kann, um sie abzuwenden. Unser Krisenstab ist ein Krisenpräventionsstab. Und das ist ein Privileg.
Wir hoffen nach wie vor, dass wir ohne größere Einschnitte durch die Pandemie kommen, dass es keine COVID-19-Fälle gibt, dass sich die wirtschaftlichen Folgen in Grenzen halten.
Seit Freitag habe ich Urlaub, überlasse den Krisenstab den Kollegen und bin eigentlich froh, dem Ganzen für eine Woche zu entkommen. Doch das Coronavirus lässt es nicht zu. Ich sitze zu Hause. Das Wetter ist herrlich, aber die Cafés bleiben geschlossen, die Einkaufstour durch die Geschäfte und Boutiquen muss aufs Internet verlegt werden, Reisen und Besuche sind nicht möglich. Ist unter diesen Umständen überhaupt Erholung möglich oder wird das eine Grenzerfahrung?
Die Ausbreitung des Coronavirus wirft mehr Fragen auf, als Antworten möglich sind.
Was ist diesmal anders? Im Laufe der Jahrzehnte habe ich so viele Krisen verfolgt, bei denen düstere Szenarien durch die Medien geisterten. Gepanschter Wein. BSE. Gammelfleisch. Vergiftete Eier. Verunreinigte Medikamente. Vogelgrippe. Schweinepest. SARS. Kalter Krieg, echter Krieg und Terror. All das ist nie bei mir angekommen und bei den meisten anderen auch nicht. Das ist ein Privileg. Andere hatten das Glück nicht. Zu sagen, dass wir glimpflich davon gekommen sind und dass uns auch Corona glimpflich davon kommen lässt, wäre zynisch. Menschen sind krank geworden, Menschen haben gelitten, Menschen sind gestorben. Und was die Corona-Pandemie betrifft, sind wir gerade erst mittendrin. Ausgang völlig offen. Für glimpflich ist es zu spät.
Aber was ist diesmal anders? Was bewegt Unternehmen dazu, dieses Virus ernst zu nehmen und eine Krisenprävention zu veranlassen, wenn zuvor bei SARS und Grippewellen nichts oder nicht viel geschah? Was bewegt die Politik, gerade dieses Virus so zu fürchten, dass sogar Ausgangssperren verhängt werden? Nein, ich meine nicht, dass wir mit Kanonen auf Spatzen schießen. Wir schießen mit Kanonen auf fiese Raubvögel. Aber ist Corona wirklich Smaug, der Drache? Ist das Coronavirus tatsächlich gefährlicher als andere Erreger, bei denen wir deutlich weniger Tatendrang zeigten? Was ist mit der Tatsache, dass die meisten Menschen nur leichte Symptome zeigen, wenn sie erkranken? Wenn ich aufrichtig sein darf, bleiben die Antworten des Robert-Koch-Instituts an dieser Stelle dürftig. Corona ist gefährlicher als Grippe. Und die Medien zitieren lieber die Johns-Hopkins-University, weil dort die Fallzahlen stets deutlich höher sind als beim RKI.
Nein, ich werde diese Pandemie nicht kleinreden, ich bin auch kein Anhänger irgendeiner verschrobenen Verschwörungstheorie. Mir ist bewusst, dass es dieser Tage alles andere als politisch korrekt ist, kritische Fragen nach einer Übertreibung zu stellen. Nur: Ich verstehe es nicht. Ich verstehe nicht, was diesmal anders ist als bei anderen Krisen, die in der Vergangenheit im Anmarsch waren und zu Horrorszenarien führten. Ich verstehe nicht, warum in diesem Fall Politik, Wirtschaft und Wissenschaft so frühzeitig und mit so viel Ernst auf eine Entwicklung eingestiegen sind, die vor einigen Wochen noch überhaupt nicht absehbar war.
Womöglich ist die Zeit für eine Antwort noch nicht gekommen. Vielleicht stellt sich heraus, dass weite Teile der Welt diesmal einfach das richtige Bauchgefühl hatten und sehr angemessen reagierten. Vielleicht bahnt sich tatsächlich eine Katastrophe an und die Welt tut zu Recht alles, um sie abzuwenden. Vielleicht kommen wir in einigen Jahren aber auch nachträglich zu dem Schluss, dass diese massiven Abwehraktivitäten übertrieben waren. Sollte sich aus der Pandemie nun auch eine Wirtschaftskrise entwickeln – und danach sieht es leider aus –, dann wird es früher oder später auf jeden Fall zum Diskurs darüber kommen, wie angemessen das alles war.
Im Augenblick lässt sich offenbar nichts daran ändern, dass die meisten Menschen diese Krise wortwörtlich aussitzen müssen. Es darf dabei nicht unterschätzt werden, dass hier ganze Gesellschaften in die Individual-Isolation verbannt werden. Ich hoffe, das geht gut. Mir macht es etwas aus, bestimmte Menschen bis auf Weiteres nicht sehen zu können, weil sie zu einer Risikogruppe zählen. Mir macht es etwas aus, auf unbestimmte Zeit in meinen Freizeitmöglichkeiten beschränkt zu sein. Mir persönlich macht das Coronavirus bislang keine Angst. Mich nervt es. Auch das ist wieder das Privileg des Glücklichen, der noch nicht betroffen ist. Ich weiß das. Es fällt mir schwer, nicht zynisch zu sein und dem dusseligen Erreger keine lange Nase zu zeigen.
Wenn die Frage also überhaupt irgendeine Berechtigung hat, was an dieser Krise anders ist, dann stehen zumindest einige traurige Antworten fest: Zu viele Menschen werden krank, viel zu viele Menschen sterben. Was in China, Iran, Italien und anderen Regionen passiert, ist eine Tragödie.
Was ist anders an der Corona-Krise? Anders ist an dieser Krise, dass sie gefährlich ist. Sie kostet Leben, sie beeinträchtigt die Wirtschaft, sie gefährdet Existenzgrundlagen, sie nimmt eine ganze Gesellschaft gefangen und treibt die Menschen in die Isolation. Corona hat sich zu einem Phänomen entwickelt, das sich in allen wesentlichen Dimensionen des Menschseins einnistet. Corona ist ein Miststück.
Bleibt zu Hause, bleibt gesund, alles Gute.
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