Hawzhen Ibrahim Sdik - Geliebte Mutter (Literatur eines jungen Flüchtlings in schwierigen Zeiten)

Hawzhen Ibrahim Sdik
Köln, im April 2020


Geliebte Mutter

im fernen Orient.
Am liebsten
würde
ich Dir
ein Denkmal bauen.

Skorpionheißstaubig die Sommer,
feuchtkaltschlammig die Winter.

Meine Not zerriss Dir die Seele:
Mein Junge,
am Ende schlägt man Dich hier tot,
bevor Du achtzehn wirst.
Gabst Deinen Segen
zu meiner Flucht.

Verließ ich den Orient.
Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag.
Floh nach Europa.

In bitterkalten Wintern
liefst Du anderthalb Stunden
zur nächsten Telefonvermittlung.
Anderthalb Stunden zurück.
Niemand von uns hatte ein Handy
vor Jahren.

Schlamm ungeteerter Straßen
verklumpte an Deinen Schuhen.

Meinen kleinen Bruder Azhen hieltest Du
an Deiner rechten Hand,
meinen kleinen Bruder Khozhen
an Deiner linken.

Sie waren Deine treuen Begleiter.

Bitte wählen Sie diese Nummer!
Der Mann von der Telefonvermittlung
wählte die Zahlenfolge auf dem Stück Papier,
das Du hütetest wie Deinen Augapfel.
Sie begann mit 0049.
Wissen Sie: Dort lebt mein großer Sohn Hawzhen!

Am Rand der deutschen Kleinstadt: mein Flüchtlingsheim.
Eine dunkle Telefonzelle im Treppenhaus.
Ein einziges Telefon für einundvierzig junge Flüchtlinge.

18:00 Uhr.
Ich warte
auf Deinen Anruf,
Mutter.

Es klingelt.

Reza aus dem Iran -
Karin aus Kongo -
oder noch jemand anderes
ist schneller
als ich.

Sie verstehen kein Kurdisch-Sorani.

Aufgelegt,
sagt der Mann an der Telefonvermittlung.
Der Nächste bitte!

Anderhalb Stunden hin, anderhalb Stunden zurück.
Durch Eiseskälte.
Azhin und Kozhin an Deiner Hand.
Alles umsonst.

Wie kann so etwas passieren?
Als Kind habt Ihr mir beigebracht:
Gott schläft nie.

Aber wo war er in diesem Augenblick?
Bist Du sicher, dass er nicht doch eingeschlafen ist?
 
Immer wieder quältest Du Dich
durch diesen eiskalt nassen Matsch.

Bis Du
mich endlich
am Telefon hattest.

Am anderen Ende der Leitung.
Am anderen Ende der Welt.

Für glückliche
drei bis vier Minuten.

Was für einen hohen Preis hast Du dafür gezahlt?

Mutter,
ich seh Dich vor mir.
Als wäre ich damals dabei gewesen.

Heute skypen wir.

Wir können uns sehen.
Köln - Sulaimaniyya
zu Corona-Zeiten nur noch auf diese Art erreichbar.
Du siehst mich an meinem Kölner Esstisch.
Ich Dich im Wohnzimmer in Sulaimaniyya.

Zufällig sprechen wir über diesen eiskalten Winter.
Als ich in ein deutsches Flüchtlingsheim zog.

Dass Du jedesmal
auf dem langen Rückweg

von der Telefonvermittlung
nach Hause
laut weintest,
Meter für Meter,

das, Mutter,
weiß ich
erst
seit heute.

 


Kurzbiographie:

Hawzhen Ibrahim Sdik
geboren 1982 in Sulaimaniyya / Nord-Irak, floh vor Gewalt und Entrechtung im Alter von 17 Jahren aus seiner Heimat. Über das iranische Bergland, die Türkei, Griechenland und Italien. Er wurde ausgeraubt auf der Flucht, von Grenzsoldaten verhaftet, überlebte die Überfahrt im sinkenden Schlauchboot nur mit letzter Kraft. Heute lebt er in Köln, ist deutscher Staatsbürger, examinierter Sprach- und Integrationsmittler und setzt sich leidenschaftlich für Menschen in Not ein.