Heike Avsar - Einsamkeit (Literatur in schwierigen Zeiten)

Bitte auch an die Alten und Hochbetagten denken, die durch die Corona-Krisensituation – selbst in Alters- und Pflegeheimen - noch einsamer geworden sind. Deren Gedanken oftmals von der Sehnsucht, diese Welt zu verlassen zu können, bestimmt sind. Schreibt ihnen Briefe - die Post wird noch zugestellt - damit sie sich nicht vergessen fühlen.



Heike Avsar
Einsamkeit


Sie sitzt vor dem Spiegel, die Gedanken sind weit.
Ein Lächeln umspielt ihren Mund,
sie scheint in einer anderen Zeit.
In einer Zeit, als sie noch jung war und schön,
sieht, wie die Männer die Köpfe verdreh ‘n.
Sieht, wie sie vor dem Traualtar steht,
und den Bund für ein gemeinsames Leben eingeht.
Sie sitzt an der Wiege, bis das Kind nicht mehr weint,
des Nachts hält sie eine starke Hand,
selbst im Schlaf noch vereint.
Sie steht am Tor - er muss in den Krieg hinaus.
Sie bleibt mit dem Kind allein zu Haus.
Es kommen Briefe „Bald bin ich wieder bei dir,
halt’ deine Hand des Nachts, das wünsche ich mir.“
Sie sah ihn nie wieder, er kam nicht zurück.
Der Schmerz grub sich in ihr Gesicht,
Stück für Stück.
Das Kind wurde älter, hatte keine Zeit,
stand nur zum Geburtstag mit Blumen bereit.
Ihre Haare sind grau, die Hände alt,
sie weiß, sie geht zu ihm, schon recht bald.
Er reicht ihr die Hand, sie kann es spüren,
er wird sie in eine glücklichere Zeit entführen.