Julia Meisinger - Café der Ewigkeit
Café der Ewigkeit
Er schaut auf die Uhr und hat im nächsten Moment wieder vergessen, wie spät es ist. Natürlich, die Zeit ist schon einige Zeigerbreiten weiter gesprungen, als er seinen Blick von der Kirchturmuhr zurück auf seine miteinander spielenden Hände richtet, also hätte es keinen Sinn gemacht, zu wissen, wie die Zeiger stehen, wenn die sich ohnehin jeden Moment wieder ändern.
Er legt resigniert seinen Kopf auf die Arme, die, zur Ruhe gezwungen, jetzt auf dem kleinen Tischchen im Café der Ewigkeit ineinander gekreuzt waren. In seinen Augen glänzt jedoch noch immer das Licht hinter der Uhr. Um seinen Körper hüllt sich der Strahl dieses Heiligenscheines. Dieser Platz ist unangenehm und Falten zieren seine Stirn.
Warum sitzt er nochmal hier?
Ach ja, der Engel hat es ihm zugeflüstert und jetzt soll er auf eben diesen warten.
Ein Geschöpf mit strahlender Haut, das nachts zu ihm durch das Fenster gestiegen war, einen Weckkuss auf den Lippen. Der Engel legte sich zu ihm ins Bett und flüsterte ihm ins Ohr, trotz dem dass dieses mit einem Stöpsel verstopft gewesen war, wann und wo er auf den himmlischen Körper warten sollte. Und es verschwand mit einem Zwinkern.
Er schaut nun wieder auf die Uhr und merkt sich zum ersten Mal die Zeit. Der Lichtbringer neben ihm hat seinen Blick geklärt. Goldene Augen fixieren sich auf einmal auf trübe, reißen letztere vom Fenster weg. Ein entnervter Ton entfährt seinen Lippen angesichts der Unpünktlichkeit des Engels. Der Engel grinst nur und legt ihm geschwisterlich den Arm um die gebeugten Schultern.
„Du hast mir etwas versprochen“, sagt das Geschöpf nun.
Er schaut seinen Gegenüber verwirrt an.
„Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr.“ Der Engel schmollt.
Plötzlich, als wäre dieser Schmollmund der Auslöser gewesen, blitzt tatsächlich eine Erinnerung in seinem Gedächtnis auf und er starrt das Wesen mit offenem Mund an. „Du bist es“, haucht er.
Dem Engel entfährt ein Kichern, einer Antwort zu seiner Verwirrung gleich, und fährt fort: „Aber du hast trotzdem dein Versprechen vergessen, nicht wahr?“ Ein erneutes Kichern. „Du hast versprochen, für mich weiter zu leben! Aber mal wieder muss ich dich an etwas, das du vergessen hast, erinnern.“
Ihm kommen bei den Worten die Tränen. Ja, er hat es vergessen und hatte es auch vergessen wollen. Er hat nicht erwartet, dass es seinem Engel so viel bedeuten würde. Dass es überhaupt Engel gab, hat er nicht erwartet!
Seine Stimme zittert, als er sich zu entschuldigen versucht, doch der Engel winkt ab. „Spar´ dir deine Entschuldigungen, es gibt nur eines, was ich möchte.“ Ein vielsagender Blick wird in seine Richtung geworfen. „Ich will, dass du endlich lebst.“
Das Geschöpf legt ihm die Hand über das Herz, diesen Satz so tief in seine Brust einbrennend, dass er vor Schmerzen die Zähne aufeinander pressen muss.
„Lebe“, flüstert der Engel noch, bevor er sich mit dem Geflügelten im Licht der Kirchturmuhr aufzulösen beginnt. Ein erschreckter Laut entweicht ihm noch, dann ist er fort, zusammen mit dem Engel.
Kurz darauf findet er sich alleine auf einer Straße wieder zu einem Ort, den er nur durch seine Träume kennt. Und zu der er nie gewagt hat, zu wandeln.