Mülhime Nur Itik - Der Klang der Traktoren. Aus: Auf-BRUCH in meine Zukunft
Der Klang der Traktoren
Heimat, der Begriff der mehr in sich trägt als nur sechs Buchstaben. Der Begriff von Zuhause, von Familie, von Kultur. Der Begriff von Sehnsucht.
Ich dachte sehr viel über ihn nach. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, eine bestimmte Antwort werde ich niemals finden. Nur eine einzige Definition reicht nicht aus. Es steckt viel mehr drin.
Meine Vorfahren erzählten mir, wie sehr sie die alten Zeiten vermissen. Ja, die alten Zeiten. Die ruhigeren, friedlicheren Zeiten. Die Zeit in der Heimat. Sie sei so viel lebendiger gewesen. Die Arbeit habe so viel mehr Spaß gemacht. Das Essen mit der Familie sei stimmungsvoller gewesen. Einfach nur schöner gewesen. Die Heimat führt zur Ruhe. Sie führt zum Frieden der Seele. Hier, ganz weit weg von der Heimat, ja, auch sehr friedlich und schön, jedoch nicht so passend wie in der Heimat.
Egal, wohin ich reise, ob es die Malediven sind oder die berühmten Savannen. Nein. Meine Heimat bleibt der schönste Ort meiner Ansichten. Unersetzbar. Toll. Der Ort voller Erinnerungen. Ich erinnere mich an den ersten Tag, an dem ich in unserem Dorf war. Davor hatte ich immer nur Metropolen und große Städte besucht. Touristik und Einkauf. Langweilig! Mein Dorf, der Ort voller Farbe, voller Natur. Der Ort der Seelenruhe.
Meine Heimat. Der erste Tag war im frühen Augenblick sehr fremd. Ich war anders. Anders als alle anderen im Dorf. Meine Hose, mein Oberteil, meine Schuhe. Ganz anders. Unser Auto, viel moderner als die Traktoren. Aber nichts konnte die Stimmung schöner machen als die Latschen der Omas, die Hemden der Opas, der Rauch aus den Häusern und der Klang der Traktoren. Genau das alles machte jedes Dorf aus. Natur. Die Natur um uns herum und die Natur der Menschen. Keine neuesten und teuersten Schminkprodukte, nein. Pfefferminz aus dem Garten, Milch aus dem Kuhstall und die Körperpflege mit reinem Brunnenwasser. Genau das ist Heimat für mich. Das transparente Leben. Die hilfsbereite Nachbarschaft, der großzügige Verkäufer, sogar auch die frechen kleinen Kinder auf den Straßen mit kaputten Bällen, aber trotzdem voller Fröhlichkeit und Lachen.
Nichts kann die Heimat ersetzen, kein Reichtum der Welt. Egal, wie sehr ich meine Heimat liebe, für eine Ewigkeit könnte ich trotzdem nicht dorthin. Die Sehnsucht ist ein Teil meiner Heimat geworden. Ob ich wei-terhin diese Gefühle für meine Heimat beibehalten könnte, wenn ich dort leben würde? Unwahrscheinlich. Ich mag mein Zuhause hier in der Stadt auch. Freunde, ein Teil der Familie. Auch hier ist ein Zuhause von mir. Ich habe mich an das System gewöhnt und liebe es hier. Nichts geht über meine Heimat, aber das Verlassen meines Zuhauses in der Stadt? Auch unwahrscheinlich.
Mülhime Nur Itik (17 Jahre)
aus:
Hg.: Artur Nickel
Auf-BRUCH
in meine Zukunft
Jugendliche aus dem Ruhrgebiet
blicken nach vorn
16. Essener Jugendanthologie
mit einem Vorwort
von Carla von Reentsma, Fridays for Future
Geest-Verlag 2020
ISBN 978-3-86685-811-4
12,50 Euro
„Zukunft – ein simples Wort, oder nicht? Aber stellt man sich einmal die Frage, was die Zukunft eigentlich für einen persönlich bedeutet, was jeder Einzelne damit emotional verbindet, erkennt man schnell, dass es doch nicht bloß ein einfaches, alltägliches Wort ist. Im Gegenteil. Es entfacht ein Feuerwerk an Emotionen und Gefühlen.“
Isabell Bockmühl, 19 J.
Eine großartige Anthologie mit Beiträgen von mehr als 120 jungen Autor*innen zwischen 14 und 20 Jahren aus dem Ruhr-gebiet, verfasst in einer Zeit, in der die Corona-Krise auch junge Menschen in elementare Fragen nach der eigenen individuel-len und gesellschaftlichen Zukunft stürzte.
Bereits zum 16. Mal haben das Literaturfestival „Literatürk“ und das Kulturzentrum Grend Essen sowie der Geest-Verlag Vechta Jugendliche aus dem Revier eingeladen mitzuschreiben und sich einzubringen. Wieder mit überwältigendem Erfolg, obwohl es keine Preisanreize gibt! Die über 200 Einsendungen sprechen für sich. Das Thema Zukunft ist es, das den Jugendlichen wichtig ist, und die Möglichkeit, gehört zu werden. Die Essener Anthologien sind ihr Reflexionsmedium, in dem sie sich unverstellt äußern, ein jeder auf seine Weise. Und das ist etwas Besonderes und wohl in ganz Deutschland in dieser Form einmalig. Immer wieder stellen die Jungautor*innen die Frage, ob es eine Zukunft für uns gibt, wenn doch alle unsere sozialen und emotionalen Sicherheiten in Frage gestellt sind. Welche Antworten sie darauf wohl finden?
„... wie großartig und bereichernd ist es, dass Jugendliche den Mut, die Weitsicht haben, das Wort zu ergreifen. Unabhängig davon, ob sie es auf den Straßen mit Protestschildern oder vor einem Blatt Papier mit dem Stift in der Hand tun ...“
Aus dem Vorwort von Carla Reemtsma , Fridays for Future