Marianne Behechti - Der Engel der Gerechtigkeit

DER ENGEL DER GERECHTIGKEIT


Es dauerte mehrere tausend Jahre, bis er endlich vorgelassen und aufgefordert wurde, seinen Antrag zu stellen.
„Ich frage nicht, warum sie meinen Termin immer wieder verschoben haben …“
„Notfälle! Wir können uns vor Notfällen nicht mehr retten. Aber bitte, fahr fort!“
„Ich bin der Engel der Gerechtigkeit. Ich habe freie Hand, was die Methoden angeht …“
„Das ist uns bekannt! Fahr fort und fasse dich bitte kurz. Unsere Zeit …“
„Ich weiß. Mein Antrag betrifft die Spezies Mensch. Sie weist erhebliche Fehlfunktionen auf und bedarf unbedingt einer Systemüberprüfung.“
„Beschreibe die Fehlfunktionen.“
„ER hat sie auf einem Planeten angesiedelt, der alles hat und hervorbringt, was sie brauchen. Sie sind die klügste Gat-tung. ER hat ihnen freien Willen gegeben, der mit einem gewissen Hang zur Sturheit und Aufmüpfigkeit gut funkti-oniert und genutzt wird. Die Spezies ist geteilt in weibliche und männliche …“
„Bitte, komm zur Sache!“
„Sie maßen sich meine Aufgabe an. Ich möchte mein Amt niederlegen.“
„Und was hat das mit Gerechtigkeit zu tun?“
„Der freie Wille und die Meinungsfreiheit setzen alles in Brand!“
Die Mitglieder des Komitees krausten ihre Stirnen. Der Engel fuhr fort: „Sie haben Meinungsfreiheit, Religionen und Prinzipien. Sie pflegen Gewohnheiten und Rebellionen. Sie sind klug, können lieben bis zur Selbstaufopferung und sind zu unvorstellbarem Hass fähig. Ihre Willensfreiheit fordert einerseits Gerechtigkeit für alle und andererseits Gerechtigkeit für die Durchsetzung persönlicher Ziele. Ihre stärksten Argumente sind: Das ist so, weil ich es sage! – Das ist so, weil es schon immer so war! -  Das ist so, weil Gott das will! ...“
„Willst du IHN etwa …“
„Nein! Nur verdeutlichen, wozu das führt. Meistens leben diese Menschen mit ihren Vor- und Nachfahren friedlich zusammen. Manchmal aber wird der eine oder die andere – und es werden immer mehr – von einem Virus der Macht befallen. Das bedeutet: Tu das, denk das, leb so, wie ich es dir sage! Der nächste Befallene fordert dasselbe. Je mehr Macht sie haben, umso mehr können sie ihren Willen durchsetzen und den der anderen brechen. Dabei werden Gewalt-Gene freigesetzt. Das Schlimme ist, dass jeder von ihnen der festen Überzeugung ist, der Gerechtigkeit zu dienen. Was soll ich also tun?“
„Wir brauchen weitere Erläuterungen.“
Der Engel seufzte und sagte: „Aus abertausenden Fällen werde ich euch ein paar schildern. Die Menschen führen Krieg miteinander. Erspart mir bitte, die Gründe aufzuführen. Die Kämpfer auf einer Seite vergraben Explosionskörper entlang der Grenzen ihres eigenen Herrschaftsgebietes. Die gegnerischen Kämpfer schicken Kinder vor, um diese Grenzgegenden, also das Gebiet, das erobert werden soll, zu sichern. Versteht ihr? Die Kinder werden zerfetzt von den Sprengkörpern, damit die Kämpfer unverletzt in das Gelän-de des Gegners einfallen können, um sich dann gegenseitig umzubringen.“
Der Engel visualisierte in den Köpfen des Komitees einige Szenen. Die Mitglieder des Komitees sahen sich an, zogen die Augenbrauen hoch und meinten: „Weiter!“
Der Engel räusperte sich und sagte: „Die einen sind unvor-stellbar reich, die anderen unvorstellbar arm. Das Hauptan-liegen der Reichen ist es, noch reicher zu werden, deshalb beanspruchen sie alle Ressourcen des Planeten für sich. Die Armen schuften unter katastrophalen Bedingungen für die Machterweiterung der Reichen. Die Armen und ihre Kinder sterben früh unter Qualen an Seuchen, Giften und Hunger.“
Der Engel visualisierte in den Köpfen des Komitees einige Szenen. Die Mitglieder des Komitees pressten die Lippen aufeinander, setzen sich aufrechter in ihren Sesseln zurecht und sagten: „Weiter!“
Der Engel nickte. „Viele von ihnen haben Gesetze zur Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das erste dieser Gesetze heißt meistens Grundgesetz. Ich gehe davon aus, dass ich hier nicht darlegen …“
Die Mitglieder des Komitees schüttelten die Köpfe.
„In diesem ersten und wichtigsten Gesetz wird die Würde aller Menschen als unantastbar festgeschrieben. Und doch sind sie fähig, andersdenkende Männer, Frauen und Kinder im Namen des Gesetzes zu Tode zu peitschen. Sie vergewaltigen Kinder und Frauen mit der Entschuldigung, sie könnten nicht anders, da ER ihnen diese Veranlagung eingepflanzt hat. Sie zerbomben Städte, Dörfer, Felder und Wäl-der, sie verseuchen sogar ihre eigene Luft und ihr tägliches Trinkwasser.“
Der Engel verstummte und visualisierte in den Köpfen der Mitglieder des Komitees einige der grauenvollen Szenen. Einige Mitglieder schlugen die Hände vor ihre Gesichter, andere blickten stumm zu Boden. Der Vorsitzende des Komitees hob den Kopf und sagte mit belegter Stimme: „Wir werden diese Angelegenheit weiterleiten. Damit ist die Anhörung beendet!“
Der Engel warf ein: „Ja, aber …“ Der Vorsitzende wiederholte mit Nachdruck: „Wie gesagt, wir werden diese Angelegenheit weiterleiten!“

 

aus: Marianne Behechti - Ins Ohr geflüstert - Fragmente eines Lebens (in der lektoralen Arbeit)