Markus Fegers - Besondere Maßnahmen (Literatur in schwierigen Zeiten)

Besondere Maßnahmen
„Wie es mir geht?“, fragt Wenke am Telefon. „Bestens natürlich…“
Ich ignoriere den sarkastischen Unterton.
„Schön. Dann ist ja gut.“
„Nichts ist gut“, sagt Wenke bitter. „Wie auch? Du kannst im Homeoffice arbeiten, aber ich? Alleine in diesem Monat fallen sechs Konzerte weg, die fest eingeplant waren. Das geht echt an die Substanz. Außerdem beginnt sich Konrad zu langweilen…“

Konrad ist ihr Kontrabass, ein riesiges Instrument, mit dem Wenke ein symbiotisches Verhältnis hat. Mit Konrad tourt sie durch die halbe Republik, frei und ungebunden, niemandem verpflichtet, spielt hier und da und dort, hilft aus in Laien-Orchestern oder
No-Name-Bands, nimmt alles mit, was sie so kriegen kann.
Auch den einen oder anderen Beifahrer, um die Benzinkosten zu senken.
Mich zum Beispiel.
So haben wir uns kennengelernt. Ich war im vorletzten Jahr ihr Fahrgast, als ich Heiligabend meinen Vater besuchen wollte, der früh vergreist in der Demenzstation einer Psychiatrie vor sich hin dämmert.
Wenke fuhr hin, weil sie dort ein Konzert in der Klinikkapelle spielte. Gemeinsam mit Shirley,
einer schwarzafrikanischen Sängerin. Ein beeindruckendes Konzert. So beeindruckend,
dass ich die Nacht in einem schmalen Gästebett der Klinik verbrachte, um am nächsten Tag ein weiteres Konzert zu hören, statt, wie geplant, über die Feiertage auf eine einsame Nordseeinsel zu flüchten.

„Ihr könntet doch ein paar Songs in Netz stellen, Shirley und du“, schlage ich vor. „Etwas Aufbauendes vielleicht. Ich meine, Shirleys Stimme ist doch der Garant für jede Menge Klicks. Was meinst du?“ Ich pfeife die ersten Takte des Schlagers ‚Davon geht die Welt nicht unter‘.
„Haha“, zischt Wenke. „Das ist nicht witzig! Vor allem, wo derzeit so manche heile Welt den Bach runter geht. Außerdem ist unsere Zusammenarbeit Geschichte. Shirley hat sich zu ihrem Freund nach Frankreich abgesetzt, bevor die Grenzen dicht gemacht wurden.“
„Nicht schön für dich.“
„Exakt. Und mich abends allein mit Konrad auf die Straße zu stellen und die Nationalhymne zu spielen oder ‚Freude, schöner Götterfunke‘? Wie scheiße ist das denn?“
Ich bin anderer Meinung, aber das sage ich nicht. Sondern:
„Du nagst doch nicht etwa am Hungertuch? Genug Reserven für Miete und so hast du schon noch?“
Ein unwirsches Brummen am anderen Ende der Leitung.
„Du weißt, dass meine Wohnung sehr groß ist? Da wäre glatt ein Zimmer frei – ich meine, ehe du mit Konrad irgendwann auf der Straße stehst oder in deinem Kombi übernachten musst…“
Darauf geht Wenke nicht ein.
„Was macht eigentlich dein Vater?“, fragt sie stattdessen.
Ein wunder Punkt.
„Da herrscht absolute Besuchssperre“, seufze ich. „Man könnte ihn anrufen oder ihm eine Videobotschaft über das Klinik-TV zukommen lassen, heißt es, aber…“
„Aber?“
„Auf Bild oder Ton reagiert er nur selten. Mal abgesehen davon, dass er weder mailen noch skypen kann. Er braucht seine Streicheleinheiten, sonst läuft gar nichts…“
„Aber als du ihn noch besuchen durftest, warst du nur selten da, oder irre ich mich?“,
bohrt Wenke.
Noch ein wunder Punkt.
„Zu selten“, gebe ich zu. „Was mir sehr leid tut.“
„Jetzt.“
„Ja“, sage ich. „Jetzt.“
„Mit mir könntest du übrigens skypen“, sagt Wenke. „Falls du mich sehen willst…“
Ich verrate nicht, dass ich Bilder eines ihrer Konzerte auf dem Rechner habe.
Bilder, die ich ab und zu aufrufe, wenn mir danach ist, einen Blick auf Wenkes hübsches, herzförmiges Gesicht zu werfen.
Ich räuspere mich.
„Wir bräuchten uns nicht ständig auf den Füßen zu stehen. Würden uns aus dem Weg gehen, wenn es nötig ist. Platz genug ist jedenfalls da…“
„Wovon redest du?“
„Mein Angebot“, sage ich. „Das freie Zimmer…“
Schweigen am anderen Ende.
Ich warte.
„Meinst du wirklich, jetzt wäre die richtige Zeit, um eine Wohngemeinschaft zu gründen?“, fragt Wenke endlich.
„Klar“, sage ich. „Unbedingt. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen!“