Matthias Rürup - Maysie (Text und Hördatei in schwierigen Zeiten)



Maysie

hier auch als hördatei https://www.youtube.com/watch?v=Y-AjE_AUONs

Maysie ist wie Feuer. Sie kann nicht stillsitzen. "Das ist wie Sterben", sagt sie: "Man wird nur kleiner und kleiner." Aber wenn sie raus und in Bewegung kommt, da ist es wie ein Explodieren, ein Aufbrodeln und Überschäumen. Da springt sie hoch und tut einen Schritt, wie andere es auch tun – zu Anfang. Doch aus diesem Aufspringen wird bei ihr sofort ein weiteres Springen und ein noch höheres Springen. So als wäre überall, wo sie geht und springt, ein Trampolin unter ihr, das alles federnd verstärkt. Und auch ein Schritt von ihr, ist nur im ersten Moment ein Schritt wie bei den meisten. Sobald sie den Fuß hebt aber, beginnt diese Bewegung sich auszuweiten und zu vergrößern. Dann heben sich auch ihre Brust und die Arme, der Kopf ruckt hinauf und voran, dass die hellbraunen Haare fliegen – sie wird größer und breiter. Aber nicht weil sie irgendwie mehr wird, sondern weil sie sich ausdehnt, auseinanderströmt. Nie macht Maysie einen Schritt nur mit dem Fuß, sondern immer mit allem, ihrer ganzen Person. Und dann ist sie plötzlich nicht mehr hier, sondern schon da oder da. Oder wieder woanders, da drüben schon und jetzt dort. Aber so laut und übersprudelnd zuckend, dass das kein Verschwinden ist, sondern ein Umhertosen, eine Serie vieler kleiner Explosionen, immer da, wo sie gerade entlangkommt auf der Stelle hopst, jubelt und sich überschlägt.
Natürlich geht das nicht ewig, dass Maysie so umhertollt. Aber doch ziemlich lange, beeindruckend lange. Bis, als wäre auf einmal ein Schalter umgelegt worden, Maysie zusammensackt – scheinbar selbst davon überrascht. Gerade noch aufgeregt kreischend, jetzt mit offenstehendem Mund. Wie ein Feuer eben ohne Nahrung. Wenn alles verbrannt ist, was da war, und neues Brennmaterial unerreichbar. Dann krümmt sich Maysie, ein Häuflein Unglück plötzlich, grummelt und schimpft etwas schwer Verständliches vor sich hin ... brodelt und qualmt also durchaus noch, aber im Kleinen, wie verletzt oder leer. Und wenn man ihr dann etwas Essen bringt oder Trinken (Maysie selbst ist oft zu bestürzt oder wütend über ihre plötzliche Schwäche, um zu bemerken, was ihr fehlt), dann moppert sie trotzig: "Ich brauche das nicht. Ich habe keinen Hunger." Doch sobald sie etwas gegessen hat, ist Maysie schnell wieder gut gelaunt und auf den Beinen, überall wuselig unterwegs.
Wenig überraschend ist es da, das kaum einer mit ihr mitkommt. Auch Marvin nicht oder gerade Marvin nicht. Zwar läuft er ihr immer hinterher und versucht zu tun, was Maysie tut. Aber Marvin ist zwei Jahre jünger, hat kürzere Arme und Beine. Vor allem ist er aber nicht so explosiv, so übersprudelnd und aufschäumend wie Maysie. Wo Maysie über eine Wiese in einem fort purzelbaumt, stoppt Marvin nach jeder Rolle, als müsse er sich jedes Mal erst zurecht finden, wo er jetzt ist, und einen neuen Plan machen. Aber im Kreischen kann er nahezu mithalten. Und Maysie liebt das, wie Marvin bei ihr ist und bei ihr bleibt. Wie sie ihm Vorbild sein kann oder Lehrerin. Wie Marvin alles nachmacht oder besser mitmacht, bei dem was ihr an wilden, plötzlichen Dingen einfällt.
Jetzt jedoch ist Maysie eingesperrt. "Eine Gefangene", sagt Maysie, obwohl das natürlich so nicht stimmt. Es ist ja nur eine Empfehlung, bei sich zu Hause zu bleiben und nicht mit anderen zu spielen. Eine Regel, die vernünftig sei und notwendig – zum Schutz für sie selbst und für alle anderen, so erklärt man ihr. Und weil es eine gute Regel sei, so versuchen die Stimmen der Eltern auch in ihrem eigenen Kopf Maysie zu bestärken und zu beschwören, könne man sie auch gut einhalten, sie zu einem eigenen Vorhaben, einem neuen Spiel, einem neuen Abenteuer machen.
Aber Maysie gelingt das nicht. Sie fühlt das nicht. Für sie ist es wie Sterben, ein immer kleiner werden.
Anfangs hatte sie es ja versucht. Sie war von ihrem Bett zum Stuhl, auf den Tisch und dann, was durchaus waghalsig und spannend war, auf den Schrank gesprungen (wo der aufstiebende Staub sie niesen ließ) und dann wieder zum Bett und wieder von vorn. Sie hatte sich sogar, so als würde sie auf eine Reise gehen, bei der zehnten oder zwanzigsten Runde eine Tasche umgeschnallt und mit allerlei Zeug vollgeladen (Steinen, Hölzern, Figuren) und diese dann auf dem Schrank aufgehäuft und aufgebaut. Aber das war ja erst der erste Tag. Auch am zweiten, als sie den Teppich zusammenschob und aufbeulte zu einem Tunnel, durch den sie durchrobben konnte, ging das alles irgendwie, kam Maysie zurecht. Und auch noch am dritten, als sie (alles abgesprochen und erlaubt selbstverständlich) den Boden im Flur mit Wasser besprühte, so dass er rutschig wurde und sie auf Socken und Po auf ihm entlang schlittern konnte. Doch schon da war es nicht mehr dasselbe. Nicht so wie draußen und mit Marvin. Es war immer nur so ähnlich, wie gebremst, mit viel zu vielen Wänden oder viel zu vielen Sachen, die nicht kaputt gehen, nicht verschoben oder nass werden durften. Oder ständig wieder aufgeräumt und getrocknet werden mussten. Da waren viel zu viele Aufpasser, Hingucker und Hinhörer. Alles viel zu kontrolliert und unter Kontrolle.
Und natürlich gab es immer noch so Momente, in denen Maysie plötzlich zusammensackte, leer, schmerzverzerrt oder wütend. Aber das war kaum noch wegen Hunger, sondern weil sie sich gestoßen hatte an einer Kante. Oder alle Steine und Figuren schon mehrfach von ihr umher transportiert worden waren. Oder einfach, alles in allem und immer öfter weil Maysie von der ganzen Sinnlosigkeit überrollt wurde, dieser blöden Unergiebigkeit, sich ständig Dinge auszudenken, Beschäftigungen, Abenteuer, die dann doch immer nur eine Zeit lang, übergangsweise von dem Nicht-Dürfen, ihren Eingesperrtsein, der Langeweile ablenkten.
Und es ist ja auch etwas völlig anderes, wenn mal eine Spielidee zu Ende gespielt ist, draußen auf der Wiese zu liegen, noch schwer atmend vom Toben und nach oben in den Himmel zu schauen, wo dann ein kreisender Vogel interessant wird oder sich Marvins Kopf dazwischen schiebt. Oder stattdessen auf dem Teppich ausgestreckt zur Decke zu starren, auf einen Fleck, eine Fliege, müde krabbelnd da, hässlich-schwarz auf ältlich-weiß. Wie ein Feuer eingebaut in einem Kamin, fühlt sich Maysie da. Oder wie eine Kerzenflamme sogar, nur ganz schwach genährt vom Wachs auf einem Docht. Schon ein Windhauch könnte sie ausblasen. Dann ist Maysie ganz nahe daran zu weinen, steht stattdessen aber oft auf, geht in die Küche und nimmt sich einen Apfel oder einen Keks.
Selbstverständlich weiß ich nicht, ob Maysie das alles genauso empfindet. Sicherlich hätte sie es nicht so ausgedrückt und ganz bestimmt nicht aufgeschrieben. Schreiben oder Malen sind nicht so ihr Ding. Singen dagegen schon oder Trommeln oder Stampfen und Klettern erst und Rennen. Aber wenn ich sie so sehe, wie sie mürrisch umhertapst durch die Wohnung mit dem Apfel in der Hand, immer wieder an der Tür zu meinem Zimmer  vorbei, manchmal einhält, herein blickt und sich in den Türrahmen lehnt, auch hinunter rutschend und sitzend dann dort, irgendwie schlaff und besorgt – viel besorgter aussehend, als ich jemals gedacht hätte, dass das möglich wäre bei Kindern in ihrem Alter – da durchfließt mich jedes Mal selbst ein derart heißes Mitleid, ein so schwarzteeriges Bedauern, so großes Elend und wuchtiger Zorn, gegen alles und jeden – da draußen, da oben, gegen die Regeln und ihre Kontrolleure, gegen mich und sich –, dass ich mir sicher bin, nur so kann sich Maysie fühlen, genauso. Und wie schäme ich mich, dass ich ihr nicht helfen kann, nicht mehr so gut helfen kann, gerade dann, gerade nun, nicht schon wieder. Auch weil ich selbst ganz gut damit zurecht komme – mit dem Zuhause- und Still-für-Sich-Sein. Und im Gegensatz dazu sie sehe: meinen wild-zuckenden Funken, mein blinkendes Flämmchen, mein ach-so zusammengesunkenes, dumpf-schwelendes Feuerlein.
Und selbstverständlich nehme ich sie in den Arm, nehme ich mir die Zeit, tröste und beschäftige ich sie so gut es geht, schimpfe nur wenig. Ertrage ihre Ausbrüche, ihr Bittersein und bitterer Werden. Und es geht ja auch eine Zeit und geht ja auch immer wieder, aber nicht ständig und nicht auf Dauer. Feuer brauchen mehr und anderes - mehr Luft und Raum, mehr Wechsel und Freiheit als hier, hier drinnen.
Also haben wir die Regel gebrochen, die Empfehlung - es war ja nur eine Empfehlung. Und Ausnahmen möglich, Anpassungen sinnvoll.
Jetzt ist sie draußen, ich weiß nicht jederzeit wo genau. Manchmal sehe ich es blitzen im Gebüsch und manchmal rennt Maysie über den Rasen und winkt, den Kopf im Laufen unvernünftig weit zurückgedreht, zu meinem Fenster hinauf. Und Marvin hinterdrein. Oder manchmal auch Ilja. Und wenn es mal wieder soweit sein könnte, Maysie bald erschöpft und ermüdet vom Toben, mit leerem Tank, dann gehe ich hinunter zur Tür, öffne sie und fülle das Tablett wieder auf mit Broten, Möhren und Saft.