Natalia Breininger, Leipzig - Das Fahrrad tut es nicht
Natalia Breininger, Leipzig
Das Fahrrad tut es nicht
Das Fahrrad ist der einzige Gegenstand, der dir mitteilt, dass du nicht versagt hast. Das tut es still, fast schon heimlich. Facebook hingegen erinnert dich daran im-merfort, in einem schier nicht endenden Newsfeed. Wie, du bist es nicht, die diesen Literaturpreis gewon-nen hat? Wie schade. Wie, du hast noch keinen Lyrik-band publiziert? Wie dumm. Wie, du bist nicht verlobt und hast keine Kinder? Wie kläglich.
Die Arbeit ist ein weiterer Brutplatz für dein Dilemma. Nur der Weg dorthin ist vom stillen, vorurteilslosen Strampeln geprägt. Das Fahrrad richtet nicht, ob es gut oder schlecht ist, dass du neben keiner Habilitation kein anstehendes Interview und keinen Frankreichur-laub launchen musst. Kein wissenschaftlicher Mitar-beiter bist, sondern nur Teil der Administration. Auch die anderen richten nicht. Und tun es doch. Wortlos, verstohlen.
Das Fahrrad versucht nicht, dir zu vermitteln, dass im Leben alles erkämpft werden muss. Dass du ein unpro-fessioneller Vollpfosten bist, weil du menschliche Nähe willst, Gespräche, Kontakt, selbst wenn du sie selten findest. Dass du deshalb morgens aufstehst, und nicht für das Hamsterrad, in dem sich alle zu Tode drehen, und das für dich keinen Sinn ergibt. Es schilt dich nicht, dass du verlernt hast, den Sinn zu sehen.
Das Fahrrad beanstandet nicht, dass du dich nicht be-weisen, von der Chefetage gesichtet oder gelobt wer-den willst. Es kommentiert nicht, dass du um nie-mandes Gunst buhlst. Dass du müde bist, dich ex_klusiv zu fühlen. Außen vor zu sein. Es verurteilt dich nicht, dass du dich vor der Einsamkeit in Tagträu-me flüchtest. Und es dich schmerzt. Dass irgendwer anders da draußen deine Träume lebt.
Das Fahrrad hat keine Kritik zu vermelden, wenn du nach der Arbeit entmutigt in den Wald biegst oder ziel-los deine Runden drehst, um die Baumwollspinnerei, wie um ein Bienennest, weil Mahlers Dritte aus deinen Kopfhörern dröhnt und du nicht anhalten kannst. Nicht anhalten willst, unter Currentzis‘ Dirigat, son-dern tanzen.
Das Fahrrad äußert sich nicht. Zu gar nichts. Es jam-mert nur, wenn es geölt werden möchte oder vor ei-nem Platten gerettet. Es kennt keine Hierarchie. Denn wer oben sitzt, ist noch lange nicht, wer unten fährt, während sich alle um dich herum in der Vertikale dra-pieren. Und du mit fester Hand in Steuerklassen oder Verwaltungskategorien gepresst wirst. In die Alltags-last zementiert, wie in ein totes Karierheft.
Das Fahrrad tut es nicht. Und manchmal rettet dich nur das Fahren. Nur das Schreiben – in die Existenz hinein.
Natalia Breininger, geboren 1985 in Riga, Lettland. Abgeschlossenes Studium der Slavistik und Philoso-phie (B. A.) sowie der Transcultural Studies (M. A.) an der Universität Heidelberg. Seit 2009 u. a. als freie Autorin, Übersetzerin und Publizistin tätig. Veröf-fentlichungen in Literaturzeitschriften und Antholo-gien. Lebt und pendelt zwischen Leipzig, Heidelberg und Berlin.