Nicole Kunkel - Das Ende der Welt trägt blau (Literatur in schwierigen Zeiten)
Das Ende der Welt trägt blau
Die Welt, sie schreit, weint
brennende Tränen fluten
die Herzen kalt - tot
Zum ersten Mal sah ich sie in meinen Träumen, dann in den Nachrichten und nur einen Monat später blickte die Welt dem Untergang entgegen.
Innerhalb kürzester Zeit tauchte sie an ganz unterschiedlichen Orten auf – das mysteriöse Mädchen ohne Namen und ohne Stimme. USA, Australien, Frankreich, Russland und sogar in China gab es eine Sichtung.
Manche sagten, sie sei das Omen der Apokalypse, die der Welt bevorstand. Die Gläubigen sagten, sie sei eine Götterbotin, die zur Rettung der Erde ausgesandt wurde. Böse Zungen machten sie zum Sündenbock, für alles, weil sie immer genau dort gesehen wurde, wo Tod, Krankheit oder Hass wüteten. Andere hielten sie für eine gute Inszenierung der Medien.
„Nur eine weitere verrückte Fake-Nachricht“, schrie die Trumpete aus dem Weißen Haus.
Aber vielen war sie einfach egal - das Mädchen im blauen Kleid, das Blut weinte wie die biblische Madonna.
Sie kam aus dem Nichts und genauso verschwand sie auch wieder. Sie hatte porzellanhelle Haut, auf der ihre zahlreichen Narben hervorstachen wie die Alarmsignale einer roten Ampel und sie trug immer dasselbe Kleid, aus blasslauem Leinen, das zu groß für sie wirkte.
Stumm stand sie da und hatte doch so viel zu verkünden. Aber es wäre ohnehin gleich gewesen. Das, was sie zu sagen hatte, was sie mir in meinen verrückten und doch so realen Träumen anvertraute, wollte niemand hören, auch wenn die Erde den Menschen bereits alle Anzeichen dafür um die Ohren schlug.
Die Hoffnung der Welt lag in Scherben. Wir brauchten ein Wunder und für mich kam es im blauen Kleid.
Wie sehr sie mich an Lilly erinnerte. Mein Mädchen, immer mein Mädchen. Sie zeigte mir die längst verlorene Tochter, als sie noch gesund mit unserem Hund über die blühenden Wiesen hüpfte, bevor der Krebs ihre Lebensfreude und ihr Lachen verschlungen hatte.
Alles andere wurde unwichtig. Was zählte, waren die Träume, in denen ich nach ihr suchte. Ich irrte durch die Parallelwelt, meine Zuflucht. Ich ging nicht mehr zur Arbeit. Wofür denn auch? Nichts machte mehr Sinn, also schlief ich und träumte von ihr, hielt sie in meinem Arm, die Welt, meine Tochter.
Unterdessen überboten sich die Schlagzeilen, streuten wilde Gerüchte, aber vor allem Angst in die Gesellschaft, die sich schneller verbreiteten als die neue Seuche.
Sie lieferten den immer heißbegehrten Schuldigen für die Ursachen allen Übels. Und so kam es wie es kommen musste, wie es immer schon zu allen Zeiten geschah - das Mädchen wurde zur Gejagten.
Nicht normal. Da stimmt doch etwas nicht. Sie war dabei, beim Terroranschlag in Paris, hockte abseits der Opfer in einer Ecke und vergoss ihre roten Tränen. Sie ist eine Terroristin. Nehmt euch in Acht! Ein geheimes Projekt. Sie ist eine biologische Waffe und aus dem Labor entkommen. Sie ist Patient Null des neuen Virus, das schon über 10.000 Tote gefordert hat. Die Aufnahme eine Überwachungskamera in China liefert den Beweis. Da sieht man sie doch, wie sie zwischen den Seuchensäcken umherschleicht, ganz ohne Schutzanzug und Maske. Und dann noch das Blut, das aus ihren Augen läuft und die gruseligen Narben und wie sie vor den aufgetürmten Leichen kauert. Sie ist ganz klar infiziert. Eliminiert sie! Legt Vorräte an, wappnet euch! Die Apokalypse kommt.
Hier in Deutschland berichtete natürlich RTL exklusiv und überall hielten die Menschen ihre Smartphones zum Foto bereit, für den Fall, dass sie diesmal in ihrer Nähe erschien. Der höchste Betrag, über eine halbe Millionen Euro, wurde für das Bild gezahlt, das sie in Australien bei dem großen Feuer zeigte. Sie stand direkt vor den flammenden Büschen, hielt einen schreienden Koala im Arm, der zur Hälfte verbrannt war und weinte ihre blutigen Tränen. Die Luft waberte in der orange-roten Atmosphäre wie durch einen Vorhang zur Hölle. Der blaue Leinenstoff ihres Kleids wehte um ihre dürren Beine und über die rußgeschwärzte Haut. Genau wie in meinem letzten Traum von ihr, in dem die gesamte Welt bereits in Flammen stand.
„Zuerst das Feuer, dann die Flut und zum Schluss die Seuche“, flüsterte sie und zeigte mir Bilder in meinem Kopf. Teerschwarze Wellen, die die Asche und das Leben davonspülten. Das Mädchen ließ mich teilhaben an dem, was unausweichlich war. Ich blickte in ihre Augen, versank in diesem See von unendlicher Traurigkeit und der Schmerz schnürte mir die Kehle zu. Es war, als ob das Leid der gesamten Welt in mir tobte und sie war das Auge des Sturms. Um uns herum schrie die Feuerhölle. Ihr Mund öffnete sich, aber ich konnte sie nicht mehr verstehen. Wie angewurzelt stand ich da und starrte in ihr Gesicht, riss die Augen auf, kämpfte gegen das Brennen von Schweiß und Tränen darin. Sie wirkte jetzt wie eine sehr alte Frau, obwohl das Mädchen nicht viel älter als zwölf sein konnte. Genau wie meine Lilly als sie starb. Ihr Blick fesselte mich, bohrte sich tief in meinen und griff nach mir, dann hörte ich sie direkt in meinem Kopf. Das Wispern durchfuhr jede Zelle meines Körpers. Fragen über Fragen jagten meine Gedanken. Ich bekam kein Wort heraus, stand mit zitternden Knien vor ihr und starrte sie weiter an. Lauschte. Es klang wie eine traurige Melodie. Sie war irgendwie tröstlich und die Schwere fiel von meinem Herzen ab. Wellen von Mitgefühl fluteten durch meine Brust. Noch nie hatte ich mich so verbunden gefühlt und doch war ich verloren.
Ihre Stimme in meinem Kopf wurde lauter.
„Ich bin nichts und alles. Die Luft, die Erde, das Feuer und Wasser, ein Schrei, der Schmerz der Zeit. Mein Alter ist unendlich genauso wie Krankheit und Leid.“
Ich streckte meine Hand nach ihr aus, konnte sie aber nicht erreichen. Die Flammen brüllten, züngelten nach ihr und sie griff einfach hinein. Kurz darauf hielt das Mädchen den brennenden Erdball in beiden Händen, drückte ihn an ihre Brust wie eine Mutter ihr schreiendes Kind. Blut rann aus ihren Augen, tropfte zischend auf die Feuerkugel und Flammen sprangen auf ihr Kleid.
Jetzt kommt die Flut, dachte ich, aber das Feuer loderte weiter, drohte sie zu verschlingen und in meinem Kopf legte sich ein Schalter um. Mein Verstand war lahmgelegt und nur noch ein Gefühl beherrschte mich – Liebe. Diesmal werde ich dich nicht verlieren.
„Nein“, brüllte ich, sprang nach vorne in die Flammen und warf mich auf das Mädchen, presste sie fest an mich und klopfte sie ab. Sie ließ den Ball fallen und schlang ihre Arme um meine Taille. Die Welt rollte über den Boden und das Feuer erlosch.
Das letzte Bild, das sie mir in meinem Kopf zeigte, war Lilly wie sie über grüne Wiesen zu einem Mädchen rannte. Das Mädchen im blauen Leinenkleid, aber ganz ohne Narben und mit einem Lächeln im Gesicht. Sie warf meiner Tochter den Erdball zu, aus dem bunte Blumen sprossen. Der Rauch und Gestank nach verbranntem Fleisch waren verflogen. Meine Lungen weiteten sich. Ich sog gierig die Luft ein, die nach Frühling und Glück roch, wollte alles aufnehmen. Dann hielt ich inne, lauschte wieder. Schreie. Sie kamen immer näher und wuchsen zu einem schrillen Alarm, der meinen Traum erstickte. Ich wusste, dass es vorbei war, weigerte mich aber noch, meine Augen aufzuschlagen und blieb einfach liegen, hoffte, der Schlaf würde wiederkommen und mich zu ihr zurücktragen, an diesen traumhaften Ort, an dem meine Lilly wieder strahlte.
Draußen heulten die Sirenen.
Früher oder später muss man doch aufwachen, fiel mir ein. Wo war das noch gleich her? Ja, der Krieger, der davon träumte, Frieden zu bringen. Avatar - ein toller Film. Lillys Lieblingsfilm. Wir hatten ihn an die dutzend Mal zusammen angeschaut. Ich fühlte mich seltsam leicht und nahm die Schreie von draußen nur gedämpft war.
Da war nichts in mir. Keine Angst, keine Panik. Ich musste den Fernseher nicht einschalten. Ich wusste, was vor sich ging. Plünderungen, Aufstände, Chaos.
Die Feuerstürme tobten bereits über das ganze Land und die Schwere der Leere drohte mich wieder nach unten zu reißen, also klammerte ich mich an den einzigen Gedanken, der für mich noch einen Sinn ergab.
Bald werde ich mein kleines Mädchen wiedersehen.
Am Ende ist alles, was wirklich zählt, die Liebe, die wir im Herzen tragen. Erinnerungen, die Bilder und Gefühle, sind wie tröstende Pflaster, auch wenn der Schmerz noch brennt. Deshalb hielt ich sie fest. Ich sah sie vor meinem inneren Auge, als ich zum Schrank taumelte und die Hitze sich um meine Brust legte wie ein glühendes Korsett, durchwühlte wie im Wahn die Haufen von Shirts, Jeans und Pullovern, die ich nie wieder tragen würde, bis ich sie fand. Meine Notreserve. Die letzte Schachtel Schlaftabletten. Aber ich schaffte es nicht mehr, sie zu nehmen.
Mit einem lauten Knall flog die Tür aus den Angeln und eine Gruppe von schwerbewaffneten Männern in gelben Schutzanzügen stürmte die Wohnung. Ich fühlte nichts, als sie mich mitnahmen, schloss die Augen und suchte in meinem Kopf nach den schönsten Bildern.
Lilly wie sie ihre ersten tapsigen Schritte machte, ihr Lachen.
Egal wie sehr sie mich folterten und wieviel Nadeln sie in mich reinsteckten, ich blieb stumm.
Sie würden es nicht verstehen. Die Tränen konnte ich allerdings nicht zurückhalten. Sie liefen aus meinen Augen, über mein Gesicht, heiß und brennend und ich wusste, dass es Blut war, als sie meine Lippen erreichten. Sie schmeckten nach Kupfer.
„Sie ist infiziert. Sicherheitsstufe 4“, hörte ich einen der Männer sagen, dann riss mir ein andere mein Kleid vom Körper und schubste mich grob nach vorne in einen weiß gekachelten Raum, der nicht größer war, als eine Abstellkammer. Am Boden in der Mitte befand sich ein Abfluss und ich konnte gerade noch die Düsen an der Decke und in den Seiten erkennen, als auch schon harte und eiskalte Strahlen wie tausend Messer auf meinen Körper einstachen. Ich schnappte nach Luft, atmete aber nur desinfektionsmittel-getränktes Wasser, dann wurde es schwarz um mich.
Ich war jenseits der Schmerzen und die Welt rollte davon.
Der nächste Atemzug war Sommerregen. Ich trug ein Kleid aus blassblauem Leinen, als ich sie wiedersah.
Lilly rannte auf mich zu. Sie strahlte mich an und ich lächelte, als ich ihr den Ball zuwarf.
(Nicole Kunkel – Koblenz, Februar 2020)