reinhard rakow - Geh aufrecht


Geh aufrecht!


Geh aufrecht: du bist jetzt älter
als dir in die Wege gelegt, viel älter
als die, die dir früheres Gehen geweissagt
(angedroht, versprochen) hatten – und noch
immer findst du keine Antwort, wozu
du auf dieser Welt bist, wozu das ganze Leid gut sei
das Kämpfen und Suchen und Kreisen, das Treiben und
Getriebenwerden. Geh aufrecht, lass
dich nicht biegen! Gebeugt wurdst du genug. Früh
konnt´st du ermessen, was Pflicht heißt, was Dienen
Druck Verantwortung. Du kennst den Ekel vergorener
Reste edelster Essen, erbettelt gesammelt von Nachbarn
den Schweinen als Futter, weil´s ihnen sonst fehlte,
den Gestank von Gülle und Mist
dünnschissiger Kühe und Ziegen; nicht der Geschmack in Tee
getunkter Madelaines zündet Erinnerungsexplosionen
in dir, sondern der Geruch warmen Blutes, das frisch
aus der gestochenen Sau schwallt. Den Regen
nahmst du dir zum Freund, den gnädig nachgiebigen Regen
sein Strömen, das alles wegschwemmte: den Dreck
die Scheiße, das Blut, die Schuld, nie genug gewesen zu sein,
sein Strömen, das Atmen der schlafenden Mutter, die
dich umarmt, ohne dich zu bemerken, und das Lesen,
das Lesen in Zeitungsseiten, die einer zerrissen
auf dem Plumpsklo deponierte zum Arschabwischen,
und während die anderen aus dem Altgriechisch-Kurs
südliche Länder bereisten, ins Kino gingen, tanzen lernten und
wie man sich benimmt, hast du Kühe gehütet, Kaninchen
gestreichelt, Vögel bewundert, belauscht und
Gedichte geschrieben.

Viel
gesehen hast nicht von der Welt: Du kennst schwarzen Moor-
boden vor deiner Türe, kupferroten Lehm, den goldenen Löss
der hessischen Senke, Frankfurt kennst du, Hanau
Berlin, München hast du mitbekommen immerhin traten deine
Fußsohlen österreichischen Boden und den Dänemarks;
Aarhus hat dich geflasht, die Freundlichkeit Leichtigkeit
seiner Menschen und im Kunsthaus Per Kirkeby: Kirkebys
monumentale Gemälde, in Erdfarben geschichtete Sonaten
von Schubert, dem Bruder, die dein Innerstes wühlten:
Wie lang, sag, darfst du noch leben? Und wer
hat dich lieb?

Die langen Stunden des Bangens, die kurzen Minuten
des Hoffens, die raren Momente des Glücks,
des Glücks, nicht einsam zu sein, eine Schulter zu wissen
an die du dich lehnst, die du bietest, nicht allein
zu Bett gehen zu müssen, durchs Leben
(woebegone, wie Beckett es nannte)
nicht alleine zu schreiten, Beschwernis wie Unbill,
auch das Bersten der Sterne zu teilen,
die Salven lebensfeindlicher Einschläge: Krankheiten
Unfälle Katastrophen und Drogen
die vereiterte Zahnwurzel unter der Krone,
Amerys Suizid-Trigger, den Bruch einer Hüfte
die Krebsoperation, Bandscheibenvorfälle
Flecken auf der Haut, Alters Knoten und Warzen
die deinen Wert zusätzlich mindern

auf dem Markt der Eitelkeiten, diesem Schau-
platz, mit dessen Besuch du dir noch heute
zu beweisen versuchst,
dass du bist; Gelassen
durchschreite die Weite des Marktgeländes, erfreu dich
seiner Schönheiten und Hässlichkeiten, der Vielfalt,
spür´ Spannung, halt inne
an dieser Bude und jener, neugierig
führ´ein Gespräch und das nächste, begierig
zu lernen, was der andere zu sagen hat oder nicht; und lass dich
darüber nicht bluffen, denn dein Gegenüber
ist ebenso sterblich wie du.

Geh aufrecht!
Geh aufrecht, auch wenn die Knochen bröseln!
Drück den Rücken durch, selbst wenn es schmerzt.
Geh aufrecht dem Ende entgegen,
geh aufrecht
dem Sterben zum Trotz –


Inspiriert durch Katharina Körtings Gedicht „Sprich lauter“, eine „Widerspenstige Aneignung von Adam Zagajewskis „Sprich gelassener““