Rezension zu Anneliese Merkel - So nah noch - schon so fern

Aus dem Frühjahrsbrief der Ernst-Wiechert Gesellschaft
 
TROST DURCH SCHMERZ?
„In unserer Liebe sind wir wie in unseren Krankheiten entsetzlich einsam.“ (Michel del Castillo, „Der Tod der Gabrielle Russier. Geschichte einer verfemten Liebe“, Hamburg 1971, Verlag Hoffmann und Campe). Der Titel der französischen Originalausgabe dieses sorgfältig recherchierten Tatsachenberichtes lautet „Les écrous de la haine“ - „Die Daumenschrauben des Hasses“, Paris 1970, Verlag René Juillard.
Anneliese Merkel legte 2023 einen Lyrikband mit „Gedichten über Abschied und Trauer“ vor. Im Klappentext des im Geest-Verlag erschienenen Bändchens wird offen mitgeteilt, dass die Gedichte nach dem Tod zweier wichtiger Menschen der Autorin entstanden seien, und sie selbst sagt unumwunden, dass die Liebe ihres Lebens in diesen Versen zur Sprache kommt.
Der Schmerz des endgültigen Abschieds ist überwältigend. „Deine Hand musste ich/loslassen und weitergehen.“ Das Geschehen „Am offenen Grab“ reißt die Trauernde aus dem sicheren räumlichen Standort, „unter meinen Füßen/winden sich die Wege/gehe ich im Kreis“. Das gemeinsame Leben ist vorbei; der Verstorbene hinterlässt eine unerträgliche Leere und Stille: „verwaist stehen die Möbel/als spürten sie das Fehlen/deiner Hand“; „deine Bücher warten reglos/im Regal und wenden mir/den Rücken zu“. Der Tagesablauf ist geprägt vom Schmerz des Verlustes. „Morgen für Morgen/koste ich den Geschmack/ deines Namens - Vorspeise für den Tag/ohne Dich“. Und unter der Überschrift „Melancholie am Abend“ geschieht: „Deiner gedenkend beim Wein/beschlägt mein Glas noch immer/mit meiner Trauer“.
Der Tod kam keineswegs unerwartet. Die Krankheit gewährte den Liebenden eine lange Vorbereitungszeit. An dem „Stillen Tag im August“ erleben sie „unsere Schwermut“ und „du blickst vom Rollstuhl aus/ ins Offene“. Noch ist es Zeit, „noch ist kein Fährmann/ in Sicht“, aber „dem Unsäglichen ausgeliefert/umhüllt uns der Mantel/des Schweigens“. Sie sind beide „ausgeliefert“ - sie sind zusammen. Und sie bleiben zusammen, bis „im Augenblick/der tiefsten Müdigkeit/deine Hand aus meiner glitt“. Sogar am offenen Grab geht sie „von dir weg auf dich zu“.
Der Schmerz bricht immer wieder auf, und sie will ihn auch nicht verlieren, denn es „bleibt in mir ein Glutnest zurück/das soll nicht verglimmen/ich hüte das Feuer/und halte dich warm“. Die Hinterbliebene wird von Sehnsucht, Einsamkeit, schwerer Trauer gequält - aber das ist nun einmal die Kehrseite oder besser: das Kompendium einer großen erfüllten Liebe. Die Dichterin weiß es selbst: „jedes Glück trägt den Abschied/als Keim schon in sich“. „So nah noch - schon so fern“ - diese Worte wählt sie als Titel ihres Lyrikbandes, und das Gedicht, aus dem die Worte stammen, heißt „Die unsichtbare Wand“.
Was ist das für eine Liebe, die solche Schmerzen verursacht, „blutrot/wie die Wunde die   dein/Heimgang mir schlug“? Das kann nur möglich sein bei einer absoluten Erfüllung. Und darin liegt der Trost dieser Gedichte. Der Leser darf teilhaben an einer tiefsten Verbundenheit. Die „entsetzliche Einsamkeit“, von der Michel del Castillo spricht, ist vielleicht der Preis, aber die Liebe überwindet auch sie. Man gehört zusammen.
Hier ist nur ein kleiner Aspekt dieser „Gedichte über Abschied und Trauer“ angesprochen. Der Leser wird eine vielschichtige Metaphorik entdecken, kleine Sprachwunder und einen dichten biblischen Hintergrund.
Bärbel Beutner