Umbra vitae Für Paul Celan ( 23. November 1920; † 20. April 1970)

Umbra vitae
Für Paul Celan
( 23. November 1920; † 20. April 1970)

Schattenriss Geschichte
Scharfkante Mikrolith
Der Tod ist erstmals ein
Meister im Jungpaläolithikum
Der Homo sapiens
Vernichtet den Neandertaler
Er hinterlässt uns seine DNA

In der Eisenzeit
Ritzt ein römischer Soldat
Mit einem Lanzenhieb
Den corpus Christi am Kreuz
Von rostigen Nägeln
Getrieben vier Wunden
In Hände und Füße

In den Städten Europas
Lodern im Mittelalter
Reisigbündel Widerborstig
Kämpfen Frauenleiber
Gegen die Flammen Hexen
Kreischt das aufgestachelte
Volk und küsst in der
Kathedrale Hände und
Füße des Gekreuzigten

Eine Laus tat ihr übriges
Der Tod ein Meister mit Sense
Der dreißigjährige nicht
Aber der längste Krieg
Hetzt Menschen gegeneinander
Brandschanzt Kathedralen
Und Klöster entvölkert Landschaften
Der Tod ist genusssüchtig und
Verschont nicht die Popanze
In den Schlössern

…und dann das Stahlgewitter
Die Popanze werden verjagt
Nachdem sie den Weltenbrand
Entfacht haben
Klingenscharf ein
Matrosenaufstand der
Operettenreichen ein Ende setzt
Republiken folgen
Die Vernunft hat gesiegt
Meister Tod ist geschlagen
Denkt der Gutmütige

Der Tod ist ein Meister
Aus Deutschland dichtet Paul Celan
Seine Eltern kamen im Ghetto Cernowitz um
Er leidet an einer Überlebensschuld
Leben als Schuld
Seit Neandertalers Zeiten
Durchkreuzt uns diese DNA-Spur
Entitäten der Finsternis

 

Die Zeile Der Tod ist ein Meister aus Deutschland ist aus Paul Celans Gedicht Todesfuge, 1948 erstmals in deutsch erschienen in seiner ersten Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen, berühmt geworden aber erst in dem Band  Mohn und Gedächtnis, 1952.