Wendelin Mangold - Herbstsalat

HERBSTSALAT

 

Ich fange mal an. Fange an zu schreiben. Offen stehen mir alle Wege, in die Vergangenheit, in die Zukunft. Allein die Gegenwart bleibt außen vor. Denn die gibt es nicht, ist nicht existent, kaum war sie da, ist sie weg: eins, zwei, drei – die letzten Herzschläge – aus und tot, Vergangenheit. Wer weiß, was kommt? Und das soll Zukunft sein! Wenn ich wüsste, was mich erwartet morgen, in einem Jahr… Zukunft als Handlesen, als Orakel, als Mirakel, als Gehirngespinst?

 

Er schaut raus, sein Blick verfängt sich im Herbstgrau. Ende Oktober. Laubernte.

 

Der eine kann gut sprechen, und das sind die meisten. Der andere kann gut schreiben, und das sind die wenigsten. Die dritten können gut denken, und das sind die seltensten. Wenn jemand meint, er könne sprechen, schreiben und denken gleich gut, der ist nicht mehr zu retten.

 

Also, er schaut aus dem Fenster und was er sieht, ist herbstliches Himmelsgrau. Und das, was er schreibt, ist zwischen genialisch und kitschig. Denn, wie der bekannte Künstler Ben Vautier meint, ist alles im Leben Kunst, wenn der Künstler der Welt es als Kunst verkauft. Versteh das einer, wo heutzutage in der vermeintlichen Demokratie, bis zu einem gewissen Grad Anarchie, Kunst bloß nur noch Shit.

 

Sie kommen rein, Grenzen missachtend – die Europa abgeschafft – in Massen, jeden Tag zu Tausenden. Der Strom hört nicht auf, wird immer dicker, überschwemmt Land und Volk. Allein die Wirtschaft wittert Gewinn-Billiglohn, moderne Sklaverei. Wobei die Sklaven freiwillig kommen und nicht in Ketten, nach Europa eingeschleust von Schleppern. Die Türken, ja die Türkei, der größte Sklavenhändler, Hundertausende hat sie bereits verhökert. Das Schicksal der Flüchtlinge ist ihr egal, Hauptsache, die Kasse, der Gewinn stimmt. Die Amerikaner, die Kriegsherren, haben sich zurückgezogen auf ihren Kontinent hinter dem Teich – den überquerst du nicht so schnell und keine Schlepper am Werk.

 

Er weiß, dass er wieder leer ausgeht, was die Lottozahlen betrifft, die angepeilten Millionen erneut links liegen bleiben und sich vermehrfachen, wiewohl er die Ziehung selten verpasst. Warum dann das absurde Mitmachen? Es macht ihm Spaß, sich als Glücksfall zu wähnen, von Millionen zu träumen. Ja, und sollte sein Traum Wirklichkeit werden? Was dann? Ja, was dann!