Wendelin Mangold - Quälgeist (Literatur in schwierigen Zeiten)

 

QUÄLGEIST

An der Fronseite unseres Vierstockhauses wächst  ein großer verästelter Baum, der uns jeden Frühling mit seinem Flaum, Samenmännchen am Fallschirm  „beglückt“, dass wir alle Fenster und Türen zuhalten müssen. Zu welcher Baumart er gehört, kann ich nicht sagen. Ich kenne aus meiner alten Heimat nur die Pappeln, die frühjahrs ganze Flaumwehen verursachten, die wie Pulver aufflammten, wurden sie von bösen Buben mit einem Streichholz angezündet.
Als die Einwohner unseres Hauses sich beim Vermieter darüber beklagten, kamen eines Tages die Gärtner und sägten an seiner statt unsere drei jungen Birken ab und gingen, von uns beschimpft, davon.
Und nun schneit das Ungeheure jahraus jahrein bei schönem sonnigem Wetter seinen Flaum um unser Haus herum, um sich wo endlich günstig niederzulassen und irgendwann als Baum Wurzeln zu schlagen.
Neulich saß ich mit einem Buch auf dem Balkon (da der Ausgang sowieso, wenn nicht ganz gesperrt, so doch deutlich begrenzt), da umkreisten mich Flaumflocken, eine ließ sich sogar auf meinen Kopf nieder und verfing sich in meinem Kopfhaar: Was, seit wann ist mein Kopf geeigneter Platz für einen künftigen Baum!