Zur Lesung von Nicoleta Craita Ten'o in Waibstadt

Von Berthold JürriensWaibstadt. „Darf ich dich umarmen“, fragt die junge Frau nach der Konzert – Lesung die Autorin Nicoleta Craita Ten`o, die mit ihren kurzen schwarzen Haaren, ihrem runden Gesicht und der Brille verschüchtert und zugleich verschmitzt am Tisch sitzt. Davor eine Reihe von Gästen, die sich das preisgekrönte Buch „Man bezahlte den Kuckuckseiern den Rückflug“ signieren lassen möchte, das zuvor im Mittelpunkt stand. Es ist nicht die einzige Umarmung an diesem Abend mit der 32 –jährigen Nicoleta in der Aula der Realschule Waibstadt, der für viele Zuhörer lange in Erinnerung bleiben wird. Die gebürtige Rumänin hat im Alter von 13 Jahren nach einem traumatischen Erlebnis aufgehört zu sprechen. Bis dahin Klassenbeste, ging sie nicht mehr zur Schule. Ärzte diagnostizierten bei dem Mädchen Schizophrenie und Autismus. Sie kommuniziert fortan mit ihrer Umwelt über ihre Gedichte und Erzählungen. 2001 kommt sie nach Deutschland und schreibt seit 2009 ausschließlich in Deutsch. „Ich kenne keinen glücklicheren Menschen“, sagt dennoch Alfred Büngen vom Geest-Verlag Vechta, der aus dem fast 200 - seitigem Roman mit kraftvoller Stimme Passagen vorliest, die trotz der Kürze mit authentischer Erzählweise und ungewöhnlicher Bilderwelt fesseln und der Zuhörer bis dahin nie erfahrene Sichtweisen von der Welt erfährt. Die Geschichte des Roma-Mädchens Magdalena ist keine leichte Kost. Der Roman gewährt Einblicke in ein Leben, das von verbaler und körperlicher Gewalt geprägt ist. Magda reist zusammen mit ihrem Vater aus Rumänien nach Hamburg zu einem Onkel. Sie ist psychisch krank und hat nach einer Vergewaltigung viele Jahre in rumänischen Kliniken verbracht. Unter dem Druck einer kurzfristigen Aufenthaltserlaubnis von drei Monaten, versuchen beide mit Straßenmusik Geld für den Start in ein neues Leben in der Heimat zu verdienen. Von der deutschen Stadt ist sie fasziniert und möchte bleiben, doch dafür muss sie notgedrungen heiraten. Es ist ein Buch über die Sehnsucht nach Leben. Eine Sehnsucht, die sich auch bei der Autorin im Laufe der Lesung offenbart. Fast bewegungslos hört Nicoleta ihren eigenen „aus dem Kopf und Bauch stammenden Worten“ zu. Das Gesicht leicht gesenkt mit fest umklammerter Puppe wirkt sie zerbrechlich, fast wie ein kleines Kind. Büngen weiß, was er vorlesen und was Nicoleta ertragen kann, wie er sagt. „Es sind teilweise biografische Elemente enthalten“, schreibt Nicoleta als Antwort in fehlerfreiem Deutsch auf diese Frage aus dem Publikum auf einem Blatt Papier, das zeitgleich auf eine Leinwand projiziert wird. Zum Erlebten gehören unter anderem die schockierenden Erlebnisse im Krankenhaus in Bukarest. Die Beklommenheit unter den Zuhörern ist der Neugier gewichen, die von Büngen humorvoll provoziert wurde: „Ich kenne ihr Fragen. Wenn sie diese nicht stellen, mache ich das. Nehmen sie keine Rücksicht.“ Und Nicoleta grinst und unterstützt diese Aussage mit einem Kopfschütteln. „Eine Beeinflussung durch andere Autoren ist ein unmöglicher Gedanke. Das Geschriebene ist nur meine eigene Wahrnehmung, die aber nicht richtig sein muss“, schreibt sie. Man liest Sätze einer erwachsenen Frau, die einen eigenen Haushalt in Bremen mit einer 17 Jahre alten Katze führt und tagsüber in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitet. Ihre Puppe heißt Bianca, wie alle ihre Puppen, denn „Bianca ist der Name einer Betreuerin, die aus ihr einen starken Menschen gemacht hat.“ Diese Puppe sei für Nicoleta wie ihre Arme und Beine, die sie auch im Haus niemals aus der Hand lege. „Ich habe ein ganz skurriles Erscheinungsbild“, hat sie sich mal selbst beschrieben. Sie „spricht“ sechs Sprachen, liebt die Musik von Nena und „vergöttert Deutschland“, wie sie bereits am Vormittag den Schülern mitgeteilt  hatte. Überhaupt, „ich bin tief bewegt von den Jugendlichen und sehr dankbar für diese Begegnung.“ Und Büngen ergänzt, dass gerade die Lesung mit den jungen Menschen Nicoleta unglaublich glückliche Momente bescheren würde. Und spontan schreibt sie: „Wie können Menschen solche Wesen verletzen? Und wieso?“ Man hört das Publikum tief durchatmen. Nicoleta steht auf, verneigt sich mehrmals, um ihren Dank für diesen Abend auszudrücken. Sie braucht keine Sprache, um sich mitzuteilen und man kann sich vorstellen, was diese Umarmungen am Ende für sie bedeuten. „Für uns ist Nicoleta ein Vorbild geworden. Diese Kraft und dieser Mut das Leben zu meistern, hat uns alle tief bewegt“, so die Schüler der Klasse 10C, die mit Klassenlehrerin Sybille Bachmaier und Michael Schneider vom Philharmonischen Orchester Heidelberg dieses Kulturprojekt stimmungsvoll organsiert hatten und durch den Abend führten. Infotafeln über das Leben der Sinti und Roma sowie das Balkanbuffet mit landestypischen Speisen wurden genauso mit Lob überschüttet wie die Musik. „Millionen Lichter“ als Eröffnungslied war genauso passend wie die vom Quartett „arkestra convolt“ ungewöhnliche Mischung aus Folklore und Klangexperimenten. Und die Reaktionen des Publikums waren nicht nur an diesem Abend eindeutig, die Zeuge einer „einzigartigen Lesung“ und einem „einmaligen Buch“ werden durften (Zitat aus einem Leserbrief an die RNZ zu dieser Veranstaltung).