Lesereise Christl Schmidt-Holländer

Donnerstag    04.06.2009    19.00 Uhr    Schüchtermannklinik    Bad Rothenfelde    Lesung "Sechs mal zehn"

Schmidt-Holländer, Christl:
Sechs mal zehn.
Ein Leben findet statt.
Geest-Verlag: Vechta-Langförden, 2006

ISBN 978-3-86685-025-5
12,50 Euro

Zum Buch

60 Geschichten aus 60 Jahren Lebensentwicklung. Lustvolle und
auch bedrängende Erinnerungen an fast Vergessenes, die sich mit
nachdenklichen Betrachtungen der gereiften Persönlichkeit vermischen.
Weit mehr als eine Biographie wird hier vorgelegt. Es geht um die
Persönlichkeitsentwicklung einer Frau, die in der kleinbürgerlichen
Enge und zugleich Vertrautheit Wuppertals in den Jahren des
Nationalsozialismus als Einzelkind aufwächst. Die in der Kindheit und
Jugend erworbenen Einstellungen und Verhaltensweisen begleiten sie ihr
ganzes bewegtes Leben lang. Durch alle Phasen der gesellschaftlichen
und auch privaten Entwicklung von 1933-1993 ziehen sich die Grundzüge
der individuellen Prägung wie ein roter Faden. Das Ringen um
Anerkennung, das zugleich die Angst vor der Ablehnung beinhaltet, die
Bereitschaft zur Anpassung, die     aber ab einem bestimmten Zeitpunkt
immer wieder auch hinterfragt wird vom Verlangen nach individueller
Freiheit. Manche Leserin wird sich in den Gedankengängen der Titelfigur
wiederfinden. Der Leser wird vielleicht rückblickend weibliches
Verhalten besser oder doch zumindest anders verstehen.
So entstand neben einem begeisternden Roman, den man nicht mehr aus der
Hand legen will, eine wichtige und zugleich andere Form von
Zeitgeschichte.

Leseprobe

Wenn Christina versucht, sich an ihr Geburtsjahr zu erinnern,
dann muss sie Fotos zu Hilfe nehmen. Natürlich Fotos, was sonst? Und
auch die Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter müssen helfen, wenn
sie den Weg zurückverfolgen will in ihre erste Zeit. Das ist ein
notwendiger Weg, ein anstrengender Weg – meint sie, und sie scheut
immer wieder davor zurück, ihn zu gehen. Die ersten Schritte zu wagen.
Sie fürchtet mit Recht, dass sie dann weitergehen muss, immer weiter,
immer mehr Schritte tun muss auf der Suche nach  ihrem gelebten Leben. –
Aber eines Tages geht es nicht mehr, da kann sie sich nicht länger
davor drücken, auf ihre Anfänge zu sehen, Ausschau zu halten nach den
Menschen, die ihr zum Leben verhalfen, ihr ein Leben ermöglichten und
es bestimmten, bis lange in ihre Jetztzeit hinein. Ja, ihr Jetzt ist
nach wie vor verbunden mit dem Damals.

Das kleine Foto zeigt ein etwas mickriges Geschöpf. Eigentlich
kann man nur ahnen, dass dies ein Kind sein soll. Christina sieht sich
nicht, sie sieht weiße Tücher, die um einen winzigen Säugling gelegt
sind. Und es scheint, als käme es auf diesen Säugling auch gar nicht
an. Wichtig auf dem Foto ist die Frau, die ihn hält, die das Kind vor
kurzer Zeit erst geboren hat und gewiss herzlich und mit Besonderheit
liebt. Wie wohl alle Mütter ihre Kinder lieben, nachdem sie sich aus
dem Körper befreit haben, der sie lange trug, nährte und ertrug. „Meine
Mutter liebte mich ganz sicher sehr. Und nicht nur, weil ich jetzt
außerhalb ihres Körpers war und ihr als eine Tochter in den Arm gelegt
wurde. Sie liebte mich gewiss auch als die Lebensaufgabe, die sie durch
mich gestellt bekam. Ein Kind großziehen, einen Menschen werden und
wachsen sehen und daran Anteil haben in Freude und Pflicht! Ja, das ist
doch das Ereignis ihres Lebens gewesen. Oder nicht?“ –
Christina dreht bei diesen Gedanken das kleine Bild  mit dem gezackten
Rand in den Fingern, wie sie es schon oft getan hat. Sie hat dieses
erste Foto von sich eines Tages aus dem Familienalbum genommen, um es
immer wieder einmal getrennt von den anderen Bildern  ansehen zu
können. Da ist etwas Auffälliges. Als junges Mädchen hat sie sich
gewundert, heute kann sie die Besonderheit formulieren. Sie kann
aussprechen, was eigentlich immer schon als Frage da war: „Warum sieht
meine Mutter so alt und so unglücklich aus, derart verkrampft und
distanziert? Sie liebt mich doch. Sie hat mich gewollt, ganz nach Plan
im dritten Ehejahr bin ich gekommen, um die kleinbürgerliche Idylle
perfekt zu machen. Warum sehe ich ihr diese Liebe nicht an? Diese Frau
da auf dem Schwarzweißfoto hat Angst. Wovor hat sie Angst? Vor wem
fürchtet sie sich? Vor dem Kind? Vor mir?“ –
Die Zeiten waren unruhig. Christina kennt die Geschichten. Sie wurden
immer wieder erzählt. Während der Schwangerschaft der Mutter – es muss
eine einigermaßen beschwerdefreie Zeit für die 33jährige Frau gewesen
sein – hatte es Straßenkämpfe im Viertel zwischen den Nazis und den
Kommunisten gegeben. Es wurde geschossen in der Straße an der Wupper.
Farbmühle hieß die kurze Straße, in der schon der Vater großgeworden
war und in dessen Kindheitswohnung die jungen Eheleute zogen, mit den
Möbeln der Eltern, der Frühverstorbenen. Es war wenig Geld da, der
Vater konnte nur an drei Tagen in der Woche zur Arbeit gehen.
Kurzarbeit nannte es die Mutter, wenn sie von dieser Zeit erzählte, und
die kleine Christina fand das gar nicht schlimm. Schön ist es doch,
wenn der Mann nicht täglich zur Arbeit muss, wenn er bei seiner Frau
bleiben kann; denn die war schließlich den ganzen Tag allein und musste
sich schrecklich langweilen. ‚Dummes Kind! Du verstehst überhaupt
nichts. Wenn der Vater nicht arbeitet, verdient er auch kein Geld. Ohne
Geld ist das Leben schrecklich, nichts kann man kaufen!’ ‚Ach so, ja.’
Christina versucht zu verstehen. Sieht die Mutter darum so alt und
freudlos aus?
Obwohl in diesen weißen Tüchern auf dem Foto ein kleines, gesundes Kind
liegt, obwohl da Christina liegt, die leben, wachsen, groß werden will
und dazu die Liebe und die Freude der Mutter braucht?

veranstaltungsdatum: 

4. Juni 2009

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