Dieter Krenz - Seelenraum I
Seelenraum 1
Allein im Wartezimmer. Die Deckenbeleuchtung war eingeschaltet, weil es draußen schon dämmerte. Die Zeitschriften auf dem Glastisch in der Mitte des Raumes - akkurat gestapelt.
Sie aber hatte keine Lust zu lesen, geschweige denn überhaupt eine Lektüre in die Hand zu nehmen. Zu nervös war sie, was bei der Untersuchung herauskäme.
Am vergangenen Samstag hatte sie unter ihrer rechten Achsel eine Erhöhung getastet, etwa erbsengroß. Sie war erschrocken. Krebs, schoss es ihr sofort durch den Kopf.
Das Wochenende war besetzt von diesem kleinen Ding. Es drang in alle Ecken ihrer Gedanken, ihrer Gefühle. Sie hatte versucht sich abzulenken, war ins Kino gegangen - eine französische Komödie. Aber schon in dem Moment, als sie das Kino verließ und noch gar nicht am Auto war, war dieses Ding da, sprang neben, hinter, vor ihr her, umkreiste sie - um sie ins Straucheln zu bringen.
Die Nächte glättete sie mit Schlafmitteln, die die Tage danach zäh machten.
Nun saß sie im leeren Wartezimmer und starrte hinaus auf die Straße und die gegenüberliegenden Häuser. Auf den Dächern versammelten sich Tauben. Hin und wieder flog eine auf; eine andere landete. Kommen und Gehen. Bevor sie jedoch dieses Bild als Metapher weiterdenken konnte, wurde sie zur Ärztin gerufen.
Nach etwa zwanzig Minuten kam sie ins Wartezimmer zurück, grüßte dort einen älteren Herrn, der die Tageszeitung las und so die Zeit überbrückte. Schnell zog sie den Mantel an, knöpfte ihn aber nicht zu, verließ den Raum, verabschiedete sich von der Sprechstundenhilfe und - war schon auf der Straße. Jetzt erst merkte sie, dass sie zitterte. Sie zog die Handschuhe an, knöpfte den Mantel zu und ging zu ihrem Fahrzeug, das in der Parallelstraße parkte.
Da saß sie nun. Die Hände lagen auf dem oberen Rand des Lenkrades. Ihre Stirn berührte es. An den Scheiben des Autos rollten Wassertropfen herab, bis sie von den Gummidichtungen abgebremst wurden.
Ihr Oberkörper straffte sich, sie schnallte sich an, nahm die Hände vom Lenkrad und startete den Motor. Der Scheibenwischer verschaffte ihr klare Sicht. Sie atmete durch: "Ein Lipom, nur ein kleines Lipom".