Manfred Schwab - Mit dem Schneeball-System ins neue Jahr

Mit dem Schneeball-System ins neue Jahr

Was bringt uns das neue Jahr, fragen politische Bleigießer, nebelwerfende TV-Talkrunden und andere Kaffeesatz-Leser mit zwanghafter Regelmäßigkeit zum Jahresbeginn. The same procedure as last year, unken Kabarettisten. Schwierige Zeiten, verkündet die Kanzlerin. Aber sie wird sie meistern. Nur: Auf wessen Kosten? Frostige Zeiten, ahnt der Straßenkreuzer.
Frostige Zeiten? Aber hallo! Bei diesem Pseudo-Winter, der Kunstschnee-Kanoniere ins Schwitzen bringt und Kraniche die Süd-Sehnsucht vergessen lässt? Bei der fortschreitenden Erderwärmung, die Klimagipfel heiß laufen lässt, Polkappen und Alpengletscher abtaut wie ausgediente Kühlschränke? Bei flächendecken-den Solardächern, die dem Klimawandel noch eine positive Seite abtrotzen? Bei den kriegerischen Brandherden rund um den Globus? Bei den nicht nur im Silvester-Feuerwerk, sondern durch wüste Spekulationen verbrannten Milliarden samt der hinterher heulenden Euro-Feuerwehr? Gar nicht zu reden von den verbrannten Weihnachtsplätzchen …
Was also bringt uns das neue Jahr? Einige wollen die unendliche Geschichte verpasster Weltuntergänge um den 21. Dezember 2012 bereichern. So jedenfalls deuten sie die Kalender-Kunststückchen der alten Maja-Priester. Aber vielleicht geht ja gar nicht die Welt unter, sondern nur die FDP. Das wäre weiter kein Schaden. Die neuen Liberalen rudern ja schon als Piraten längsseits, unser seekrankes Staatsschiff zu entern. Wo sich mittschiffs die anderen Parteien einschließlich der Salon-Rassisten vom Zirkus Sarrazini gegenseitig auf die Hühneraugen treten. Ahoj, Kame-raden! Geowissenschaftler dagegen geben unserer Erde immerhin noch fünf Milliarden Jahre, bevor sie verschmort. Ob sich der Mensch allerdings bis dahin nicht längst selbst abgeschafft hat?
Unser Globus war schon immer ein glühender Feuerball mit dünner, brüchiger Kruste. Statt vorsichtig um-zugehen mit dem heißen Boden, auf dem wir stehen, tun wir alles, den globalen Kessel weiter anzuheizen. Die Gier nach Wirtschaftswachstum und Geldvermeh-rung scheint unersättlich. Die Konjunktur boomt; aber statt Wohlstand für alle sammelt sich immer mehr Vermögen in immer weniger Pranken. Die vielen kön-nen kaum noch das Nötigste zum Leben kaufen, und die armen Reichen haben das Problem, ihr Geld weiter gewinnbringend im Wirtschaftskreislauf anzulegen. Denn sonst ist es nix wert, nur eine abstrakte Blase. Diesen wirtschaftlichen Teufelskreis nennt man Privatkapitalismus. Kritiker sprechen von Turbo- und Casino-Kapitalismus, deren Befürworter von Neuer Sozialer Marktwirtschaft. Oder fordern einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ (NN). Man könnte das Ganze auch Schneeballsystem nennen.
Was also bringt uns das neue Jahr? Steigende Heizöl-, Benzin-, Strom- und Nahverkehrspreise machen Geringverdienern, Arbeitslosen und Rentnern das Leben schwerer. Die Kanzlerin will unsere Sozialsysteme „zukunftssicher“ machen, also Sozialleistungen weiter einsparen. Obwohl alle Sozialverbände eindringlich vor der wachsenden Armut im Land warnen. Rente mit 67 bedeutet praktisch Rentenkürzung, denn schon jetzt muss die Hälfte aller Arbeitnehmer vorzeitig in Rente gehen. Praxisgebühren für jeden Arztbesuch, Privatisierung und Schließung von Krankenhäusern sollen das Gesundheitssystem sanieren. Wer arm ist, muss halt früher sterben, die Statistiker haben‘s nachgewiesen. Ein Volk von zahnlückigen Alten wird die letzten Touristen vertreiben, die Branche in die Krise stürzen.
Also doch: Frostige Zeiten? He, das hängt auch von uns und dem Grad unserer Empörung ab. Wir sind ein Volk von Joggern, wir laufen für unsere Fitness bei Wind und Wetter durch die Wälder. Aber erst wenn wir alle zuhauf laufen, in die richtige Richtung, könnte sich was ändern. Der „arabische Frühling“ hat‘s vorgemacht. Mit dem Ruf „Wir sind die 99 Prozent!“ umzingelt die weltweit wachsende Occupy-Bewegung Banken und Regierungen. Ein demokratisches Argument gegen Ungerechtigkeit. Wenn daraus ein allgemeiner Bewusstseinssprung würde, müssten sich vor allem Krisenverursacher und Krisengewinnler warm anziehen. Also, um ein Kennedy-Wort zu variieren: Fragt nicht „Was bringt uns das neue Jahr?“, fragt: „Was bringen wir dem neuen Jahr?“